Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 und für den aspekte-Literaturpreis 2024
Die späten Nullerjahre, frühen 2010er Jahre in einer ostdeutschen Kleinstadt: Die schönste Version erzählt die Geschichte von Jella und Yannick, von der ersten großen Liebe, die alles richtig machen will. Bis es kippt. Wieder zurück in ihrem Kinderzimmer fragt Jella sich, wie es so weit kommen konnte. Sie schaut noch einmal genauer hin: auf ihr Aufwachsen in der Lausitz. Kleinstadt und Kiesgruben, Gangsterrap und Glitzerlipgloss. Auf Freundinnen, die sie durch so vieles trugen. Und auf den Moment, in dem Yannicks Hände sich um ihren Hals schlossen.
Die schönste Version ist die Geschichte eines Erwachens, Erkennens, Anklagens, eine große Introspektion: Ruth-Maria Thomas schreibt über das Frauwerden, Frausein, von Körpern, Begierden und tiefen Abgründen. Mit stilistischer Brillanz, großer Leichtigkeit und Drastik erzählt Ruth-Maria Thomas in ihrem funkelnden Debütroman von den schönsten Dingen. Und den schrecklichsten.
«Ein bedrückend-berückendes Generationenporträt der Millennials» FAZ
«Ich bin beeindruckt - von der Intensität dieses Romans und der Hartnäckigkeit, mit der Ruth-Maria Thomas das Schicksal ihrer Heldin Jella zu ergründen sucht.» Julia Schoch (Das Liebespaar des Jahrhunderts, dtv 2023)
«Ich wünschte, es hätte dieses Buch schon in meiner Nachwendejugend gegeben. Hier steckt so viel Wissen drin, was damals schmerzlich fehlte.» Hendrik Bolz (Nullerjahre, Kiwi 2022)
«Dieser Roman ist jetzt schon eines meiner Highlights 2024. Ein Muss für uns und wirklich jeden Mann, der ansatzweise verstehen möchte, wie das Aufwachsen als Frau im Patriarchat uns kaputtmachen kann.» Louisa Dellert
Besprechung vom 18.07.2024
"Leben auf die Reihe bekommen" ist nur Punkt 2 der Liste
Ruth-Maria Thomas liefert mit ihrem Romandebüt "Die schönste Version" ein berückend-bedrückendes Generationenporträt der Millennials
Ein Anfang wie ein Paukenschlag: Die 1993 in Cottbus geborene und aufgewachsene Ruth-Maria Thomas, eine neue Stimme in der deutschen Literatur, macht vom ersten Satz an klar, dass sie starke Effekte liebt. Ihr Faible für radikale Emotionen und erzählerische Kontrastbilder ist unübersehbar. Ihr Debüt "Die schönste Version" setzt ein mit einer gewalttätigen Grenzüberschreitung. Die tiefen Gefühle zwischen Jella und Yannick sind längst gekippt in Schläge, Unterwerfung und gefährliche gegenseitige Provokationen. Jetzt sitzt Jella Nowak auf der Polizeiwache und will ihre einstmals große Liebe Yannick Brenner wegen häuslicher Gewalt anzeigen. Er hatte sie gewürgt, sie hatte ihm die Zitronen-Pfeffermühle auf den Kopf geschlagen. Wie so oft hatten sie gestritten bis zur Eskalation, wie so oft sich gegenseitig mit wilden Vorwürfen aufgestachelt.
Nachdem Yannick Jella angriff, kehrt gespenstische Ruhe ein. Sie packt eine Tasche und flüchtet. Auf der Polizeiwache geht ihr durch den Kopf, dass das Wort "geschlagen" sich falsch anfühlte - als wäre sie eine der Frauen mit blauem Auge und aufgesprungener Lippe auf jenen Plakaten, die Frauen ermuntern, Hilfe bei der Telefonseelsorge zu holen. Jella und Yannick waren, so sehen sie sich selbst, ein ganz normales verliebtes Paar. Wie aus weiter Ferne erinnert sich die Frau an die Hundstage im Sommer, die sie mit ihrem Freund am Badesee verbrachte, nachts das Bild des schwarzen Waldes und des silberfarbenen Mondes vor sich, alles todesschön; und wie Yannick flüsterte, dass, wenn sie, Jella, die Verkörperung eines Moments wäre, es dieser wäre - und sie weiß noch, wie sie die Augen schloss und sich schwor, diesen Moment niemals zu vergessen.
Jella hatte sich alles ganz anders vorgestellt, als sie mit Yannick in eine gemeinsame Wohnung zog. Schön, unrealistisch, idyllisch, sentimentale Traumbilder eben: Sie hätten einfach in einer schönen hellen Wohnung gelebt, viele Pflanzen gehabt, es hätte nach der Minze auf dem Balkon geduftet, befreundete Pärchen wären zum Dinner gekommen - sie hätten es "Dinner" genannt, nicht Abendbrot. Stattdessen arteten die Beziehungskämpfe vom Tag des Einzugs an aus und machten zunehmender gegenseitiger Verständnislosigkeit Platz, wachsendem Überdruss und dann aggressivem beziehungstechnischen Kleinkriegen. Nach der häuslichen Auseinandersetzung mit Yannick kehrt Jella ins Kinderzimmer im dörflichen Haus ihres Vaters in der Lausitz zurück. Sie will erst einmal zu sich kommen und sich überlegen, wie es weitergehen soll.
Ruth-Maria Thomas rollt von diesem Punkt aus rückwärts akribisch die ganze Kindheit im ehemaligen Osten auf, in der schon die Eltern durch die Herausforderung der Wiedervereinigung und den Wandel der Ideale auseinandergeraten waren. Es ist das Protokoll einer schleichenden familiären Zerrüttung, auf deren negativer Folie Jella destruktive Beziehungsmuster erlernt. Erzählerisch ist das ein geschickter Schachzug: Er macht, ohne viele Worte zu verlieren, nachvollziehbar, warum die eigene Beziehung später nicht gelingen konnte. Die dysfunktionale Ehe der Eltern, die sich am Ende trennten, weil sie zu unterschiedlich waren, und die ehrgeizige Mutter, die erst mit dem Vater weg aus dem Dorf in eine Plattenbauwohnung in die Stadt und dann nach Berlin wollte, zur Weiterbildung und ans Theater. Der brummelige Vater, der bei der Oma im ehemaligen Osten zurückblieb, das Aufwachsen im Spannungsfeld von Kleinstadt und Kiesgruben, Gangster-Rap und Glitzer-Lipgloss. Die krisenhafte Selbstfindung als Frau zwischen Gelegenheitssex, Alkohol, zeitgeistig-modischer Selbstinszenierung mit der Freundin und die Suche nach einem tauglichen Rollenmodell zwischen patriarchalischer Dominanz, digitalen Trugbildern und kitschigen weiblichen Idealen. Die halberotische Freundschaft mit Michelle, die Jella zunächst Halt verschafft und zugleich eine Art Modell für die spätere, gefährlich verschmelzende Beziehung mit Yannick abgibt.
Ruth-Maria Thomas, die als Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe arbeitete, am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studierte, 2022 Finalistin beim "Open Mike" war und Mitbegründerin des erotischen Literaturmagazins "Hot Topic!" ist, verfügt über einschlägige Szenenkenntnis und genaue Beobachtungsgabe. Diese Stärke zeigt sich erzählerisch in der präzisen Szene- und Generationenkenntnis. Sie bildet den Zeitgeist, die Verlorenheit der Millennials und der Generation Z, authentisch ab. Der Roman spiegelt deren Ängste und Wünsche, Orientierungslosigkeit und Süchte. Er erzählt von der weiblichen Befindlichkeit von Jugendlichen zwischen digitaler Kurzlebigkeit, virtuellen Beziehungen, Verlorenheit durch fehlende Vorbilder und antiquierten Frauenbildern.
Die Geschichte von Jella und Yannick ist das Protokoll einer desorientierten Generation auf der Suche nach dem eigenen Ich. Als Jella die Mutter informiert, dass sie schon nach kurzer Zeit mit Yannik in eine Wohnung ziehen will, sagt es die Mutter deutlich: Sie fände, Jella sollte zuerst herausfinden, wer sie wirklich sei und was sie wolle. Wie ihre Heldin das Chaos des Lebens in den Griff bekommen will, verrät Ruth-Maria Thomas durch eine ebenso lapidare wie effiziente Erzählstrategie: Ihre Akteure versuchen beinahe manisch, die Fakten und Ereignisse zu katalogisieren. Nicht nur ist der Roman pedantisch in elf Tage unterteilt. Auch Jella versucht zwanghaft, die nicht fassbaren, sie überschwemmenden Herausforderungen in To-do-Listen zu strukturieren: "1. Slipeinlagen + Binden kaufen, 2. Leben auf die Reihe bekommen, 3. (Yannick?), Linh und Anna ALLES erzählen." Die Analyse der eskalierten Beziehung zu Yannick kommt in eine eigene Liste. "Con: Hände an meinem Hals. Ich wäre wieder allein, wie soll ich alles allein schaffen? Pro: er kennt mich so gut wie sonst niemand, ich/wir haben so viel investiert, alles umsonst? Liebeskummer nach Trennung zu schmerzhaft. Umzug, sehr anstrengend + teuer".
Hier liegt der große Vorzug dieser Autorin: dass sie ihre Leser teilnehmen lässt an den hartnäckigen, kompromisslosen, drastischen Suchbewegungen von Jella und Yannick. Genau darum liest man den Roman mit Neugier. Nur einmal, gegen den Schluss hin, fällt Ruth-Maria Thomas aus dem Takt. Anstatt darzustellen, kommentiert die Icherzählerin die Ereignisse psychologisch. Jella ist beim Therapeuten und gesteht, dass sie Teil des Problems sei. Sie vermisse die kompromisslose Nähe schrecklich, die durch die Gewalt zwischen ihr und Yannick geschaffen wurde. Und dann referiert die Erzählerin ein paar therapeutische Allerweltsweisheiten: dass sie wisse, dass dies alles ein Teil von ihr sei, sie den Hang zu Gewalt und Unterwerfung nicht besiegen könne, aber lernen müsse, damit zu leben.
Doch das ist ein kleiner Ausrutscher in die Welt der Nachttischchenpsychologie, Ruth-Maria Thomas switcht sogleich zurück in die lapidare, umso aussagekräftigere To-do-Liste des Lebens: "1. Mir selbst glauben; 2. Lernen, damit zu leben; 3. Shelly besuchen; 4. Handcreme kaufen." PIA REINACHER
Ruth-Maria Thomas: "Die schönste Version". Roman.
Rowohlt Verlag,
Hamburg, 2024.
270 S., geb.
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