Besprechung vom 20.07.2019
Dieses Elend könnte eine lustige E-Mail ergeben
Wie man lernt, sich selbst nicht mehr anzustarren: Sally Rooneys großes Debüt "Gespräche mit Freunden"
Ein Esstisch kann eine Menge verbergen, besonders wenn man in einer Gruppe daran sitzt, in der nicht jeder alles vom anderen weiß und auch gar nicht wissen soll. Heimlichkeiten, die deshalb im Gespräch keinen Platz haben, werden dann durch Berührungen mit den Füßen ausgetauscht. Wenn sie freundlich gemeint sind, sagen sie etwa, dass die aufgesetzte kühle Miene, die oberhalb der Tischplatte gezeigt wird und Gleichgültigkeit symbolisieren soll, nichts zu sagen hat angesichts der Nähe, die durch die Zärtlichkeit der Zehenspitzen ausgedrückt wird. Unfreundlich gemeint ist dagegen ein kräftiger Tritt, wenn der andere gerade im Tischgespräch etwas Unbedachtes gesagt hat.
Ob zärtlich oder rabiat: Die Füße setzen das Gespräch der Köpfe fort, ergänzen oder berichtigen es und sind daher auf ein Gegenüber angewiesen. Dass sie allerdings auch ein Selbstgespräch führen können, steht in Sally Rooneys Roman "Gespräche mit Freunden", der jetzt auf Deutsch erscheint. Frances, die Erzählerin, eine irische Studentin, ist gemeinsam mit ihrer Freundin Molli in ein Ferienhaus in der Bretagne eingeladen. Sie trifft dort das Ehepaar Melissa und Nick und deren Freunde Derek und Evelyn, die alle zwischen elf und zwanzig Jahre älter sind als die beiden Studentinnen. Das Gespräch kommt auf eine ehemalige Verehrerin von Nick, deren Avancen er mit dem Hinweis auf seine Ehe abgewehrt habe. Ob sie denn attraktiv gewesen sei, fragen die Freunde. Jedenfalls "irrsinnig jung", ergänzt einer von ihnen, "dreiundzwanzig oder so". Und vielleicht hätte sie sich durch die Tatsache, dass er verheiratet war, gar nicht abschrecken lassen, sondern das eher als "Herausforderung" gesehen?
Frances, die seit einigen Wochen ein immer wieder unterbrochenes Liebesverhältnis mit Nick hat, ohne zu wissen, ob jemand am Tisch davon Kenntnis hat, sagt dazu nichts, tritt sich aber "mit dem Absatz meiner Sandalen selbst auf die Zehen" - so fest, "dass der Schmerz durch mein Bein schoss, und ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um ruhig zu bleiben. Als ich den Absatz von meinen Zehen nahm, pochten sie."
Eine von vielen Szenen, von denen aus man den gesamten Roman betrachten könnte, die beiläufig und zugleich monströs wirken, so wie die Menschen, von denen die Erzählerin berichtet, je nach Betrachtung normal bis zur Belanglosigkeit und dann wieder abgründig erscheinen. Heimlichkeiten und jähe Offenbarungen prägen das Miteinander der Figuren ebenso wie der damit einhergehende Schmerz, dem die Erzählerin Frances besonders ausgesetzt ist, in seelischer und - zunächst schwer davon zu sondern - körperlicher Hinsicht, was früh angedeutet wird und spät mit einer medizinischen Diagnose bestätigt wird.
Vor allem aber spielt Rooney, Jahrgang 1991 und seit kurzem als literarische Stimme ihrer Generation gefeiert (F.A.Z. vom 17. Juni), in ihrem Debütroman alle möglichen Formen der Kommunikation durch, so dass "Gespräche mit Freunden" ein glücklich gewählter Titel für dieses Buch ist: Das sind Diskussionen in der Gruppe, bebend vor Ungesagtem im allgemeinen Geplauder, da sind Dialoge zwischen ehemaligen, aktuellen und künftigen Liebenden, auch Online-Chats spielen eine Rolle.
Und selbst über Bande wird gesprochen, wenn auch einseitig und zeitversetzt, etwa indem Frances in einer Art Schreibrausch eine Kurzgeschichte verfasst, in der Bobbi, mit der sie als Schülerin eine Liebesbeziehung hatte, einseitig porträtiert wird. Melissa, die inzwischen von Frances' Affäre mit Nick weiß, verschafft sich den unlektorierten Text aus der Redaktion des literarischen Magazins, das ihn veröffentlichen will, und leitet ihn an Bobbi weiter. Die reagiert verletzt - nicht nur wegen des wenig schmeichelhaften Bildes, das von ihr gezeichnet wird, sondern weil sie von dessen Existenz nichts geahnt hatte: "Ich habe in den letzten zwanzig Minuten mehr über deine Gefühle erfahren als in den letzten vier Jahren", sagt sie.
Tatsächlich stellt Rooney mit großer Virtuosität dar, wie große Nähe zwischen ihren Protagonisten nicht unbedingt zu einem Bild vom jeweils anderen führt, in dem der sich wiedererkennen würde, allen Versuchen zum Trotz.
Das liegt nicht nur an den Lügen und Heimlichkeiten, an dem vielen, das angedeutet und falsch oder gar nicht verstanden wird, an dem, was auf der Zunge liegt und dann doch nicht gesagt wird, oder an den intensiv empfundenen, aber höchst wandelbaren Emotionen. Es liegt auch nicht nur an den Techniken, die gerade die älteren Protagonisten ausgebildet haben, ihr Inneres zu verschleiern, was wiederum auf den Argwohn der anderen trifft - die Tatsache, dass ihr Geliebter Schauspieler ist, prägt Frances' Perspektive enorm, so dass sie jede seiner Gesten hinterfragt.
Es liegt vor allem daran, dass Frances mit ihrem quälenden Sezieren der anderen und der Welt auch vor sich selbst nicht haltmacht. Mehr noch: Sie selbst ist der wesentliche Gegenstand ihrer Betrachtung, im Spiegel und auf Fotos ohnehin, und das geht so weit, dass sie oft genug ihren Gesichtsausdruck ahnt und beschreibt, ohne ihn zu sehen. Was sie erlebt, ist oft genug begleitet von einem Bewusstsein dafür, wie man es später beschreiben könnte, und diese Folie des Vermittelten legt sich über einen großen Teil der Romanhandlung. Wenn etwas Unangenehmes passiert, denkt Frances "sogar darüber nach, wie lustig ich in einer E-Mail darüber schreiben könnte", und zwar offensichtlich an jemanden, der in der Situation anwesend war.
Es sind seltene Momente, in denen diese zwanghafte Selbstbeobachtung und -beschreibung einmal zur Ruhe kommt, etwa bei einem frühen Treffen mit Nick: "In diesem Augenblick spürte ich einen merkwürdigen Verlust von Selbstwahrnehmung, und ich merkte, dass ich mir mein eigenes Gesicht oder meinen Körper gar nicht mehr vorstellen konnte. Es war, als hätte jemand das Ende eines unsichtbaren Bleistifts gehoben und behutsam mein gesamtes Erscheinungsbild ausradiert. Das war seltsam und eigentlich gar nicht unangenehm, obwohl ich mir zugleich darüber im Klaren war, dass ich fror und möglicherweise zitterte."
Woher diese Erschütterung kommt, lässt sich in diesem Moment nur ahnen, immerhin wird deutlich, dass Nick, der von allen als zwar hinreißend schöner, aber allzu passiver Mann wahrgenommen wird, als einer, der es allen recht machen will, vor allem seiner fünf Jahre älteren Frau, für Frances zu einer Obsession wird. Sie stöbert im Internet nach alten Fotos und Filmen des Schauspielers und sieht sich, bevor sie mit ihm Mails wechselt, gern Aufnahmen von ihm an, in denen er weint, um ihm danach "wohlwollender" zu begegnen.
All dies webt Rooney in ein größeres Geflecht ein, das den Roman insgesamt ebenso prägt wie Frances' Bericht, der nicht zufällig, wie die Erzählerin hin und wieder andeutet, aus einem zeitlichen Abstand erfolgt. Es ist die Existenz eines Geflechts von Normen und Ansichten über die Dinge, die irgendwie an Frances herangetragen werden, die sich zueinander durchaus widersprüchlich verhalten können und deren Gültigkeit - für alle, für die Peer Group, für sich selbst - zu prüfen mühsam ist, zudem nicht davor gefeit, revidiert zu werden.
Und so liest man den Roman nicht zuletzt auch als einen der Emanzipation. Frances, die alles reflektiert, auch die Liebe, kommt ganz am Ende, als das Quartett aus Nick, Melissa, Bobbi und ihr selbst allem Anschein nach in keine Zweierbeziehung mehr aufzulösen ist, an einen Punkt, auf den der Text offensichtlich hinsteuert: "Ist es möglich, dass wir ein Alternativmodell entwickeln, wie wir einander lieben?", fragt sie. Und weiß, dass sie die Antwort allein finden muss.
TILMAN SPRECKELSEN
Sally Rooney: "Gespräche mit Freunden". Roman.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. Luchterhand Verlag, München 2019. 384 S., geb.
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