Besprechung vom 25.11.2023
Schlüssel unserer Art
Sascha Mamczak und Martina Vogl zeigen, dass der Mensch Teil des Lebensnetzes ist, das er zerstört.
Von Fridtjof Küchemann
Sie sollten bloß darauf achten, nicht zu negativ zu sein: Diese Mahnung war häufig die erste Reaktion, wenn das Münchner Autorenduo Sascha Mamczak und Martina Vogl von der Idee erzählte, ein Buch für Jugendliche über die Natur, die Menschen und die Zukunft unseres Planeten zu schreiben. Den dringend empfohlenen Optimismus schöpfte "Eine neue Welt", vor drei Jahren im Peter Hammer Verlag erschienen und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, aus der Einsicht, Handlungsbereitschaft und Energie der jungen Generation, an die es sich wendet - aus der verbreiteten Bereitschaft, der gängigen Überzeugung, Fortschritt sei nur durch Wachstum möglich, ökologische Informiertheit, Kenntnis und Rücksichtnahme entgegenzusetzen.
Jetzt haben Sascha Mamczak und Martina Vogl nachgelegt: "Überall Leben" heißt ihr neues Werk, ebenfalls illustriert von Katrin Stangl, genau wie "Eine neue Welt" darauf aus, eine wirkmächtige Haltung in ihren fatalen Konsequenzen auszuleuchten, und nicht minder dem Vorwurf ausgesetzt, jungen Lesern im Alter von zwölf Jahren an ein allzu niederschmetterndes Bild von der Lage der Erde und dem Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt zu zeichnen. Doch anders lässt sich ein fundiertes, aufrichtiges Bild heutzutage nicht mehr zeichnen.
Es ist nicht nur falsch, sondern es hat verheerende Folgen, dass sich der moderne Mensch im Gegensatz zur Natur versteht statt als Teil von ihr: Das ist die These des Buchs. Doch wenn sich der Homo sapiens im stetigen Kampf gegen die Natur sieht, wenn er diesen Kampf wieder und wieder gewinnt, "wenn er die Natur eines Tages ganz besiegt, besiegt er sich auch selbst". Mamczak und Vogl gehen den Wurzeln dieses Selbstbilds im menschlichen Denken und Glauben nach, sie blicken auf die (land-)wirtschaftlichen Konsequenzen, vor allem aber zeichnen sie anhand von vierzehn Lebewesen - vom Wacholder-Widertonmoos in den Alpen und vielen anderen Gegenden der Welt bis zum Oktopus - nach, welche Rolle einzelne Arten bei der Entstehung und Erhaltung von Lebensräumen, vom Leben insgesamt spielen.
"Alle Lebewesen auf der Erde", schreiben sie, "sind in einem engmaschigen Netz aus Beziehungen miteinander verbunden - und gleichzeitig sind sie dieses Netz." Instruktiv kommen die Autoren von der Begegnung mit einzelnen Tieren auf die Funktionen, für die sie exemplarisch sind: So wird im dem Weißspitzen-Riffhai gewidmeten Kapitel nicht allein gezeigt, wie der Mensch eine faszinierende Tiergruppe dämonisiert und jagt, sondern das Konzept der Schlüsselarten mit seinen drei Varianten vorgestellt: Während sogenannte Ökosystem-Ingenieure auf die Struktur eines Lebensraums einwirken und andere Arten - wie Blütenpflanzen und Bestäuber - in Symbiose den Fortbestand eines Ökosystems sichern, regulieren und stabilisieren Jäger als Schlüsselarten den Nahrungskreislauf von der Spitze der Nahrungskette aus. Was ohne die - vom Menschen nahezu ausgerotteten - Seeotter an der Westküste Nordamerikas geschehen ist und mit dem Verschwinden der Riffhaie geschähe, veranschaulicht, wie notwendig der Blick auf Ökosysteme im Ganzen ist.
Wieder und wieder wird klar, dass es die Eingriffe des Menschen sind, der Raubbau, die Jagd, der Einsatz von Giften, die Umweltverschmutzung, die Lebensräume - im Kleinen, etwa auf einem Baum, oder im Großen wie in einer Landschaft - zu zerstören drohen. Und dahinter: die irrige Annahme, der Mensch lebe unabhängig vom anderen Leben, das ihn umgibt und durchdringt. Ein bedrückender Befund.
Einzig die Offenheit und Klarheit, mit der Mamczak und Vogl ihn ausbuchstabieren, und eine das Buch beschließende kleine Schule des Wahrnehmens, die den nötigen Bewusstseinswandel beflügeln kann, nehmen ihm seine Wucht.
Sascha Mamczak, Martina Vogl: "Überall Leben".
Mit Bildern von Katrin Stangl. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2023. 280 S., geb., 24,- Euro. Ab 12 J.
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