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Besprechung vom 28.10.2023
Chronik eines Dramas
In Israel wird die gegenwärtige Situation oft mit der Jom-Kippur-Krise vom Oktober 1973 verglichen, dem Überraschungsangriff der Ägypter und Syrer auf ein gefährlich unvorbereitetes Land." Das ist ein Satz, wie man ihn in den ersten Kommentaren zum Terrorangriff der Hamas auf Israel gelesen zu haben meint. Aber er wurde nicht nach dem 7. Oktober geschrieben, sondern mehr als sechs Monate zuvor, im März dieses Jahres, und sein Autor fährt fort: Die Situation "wirkt in vieler Hinsicht genauso bedrohlich, nur dass Israel damals am 14. Oktober, nach etwa einer Woche, wieder die Initiative ergriffen hat. Heute verschlimmert sich die Lage seit mehr als zehn Wochen immer weiter, und eine funktionierende Initiative ist nicht in Sicht."
Die Rede ist nicht von einer äußeren Bedrohung Israels, sondern von einem inneren Konflikt, unmittelbar ausgelöst durch die von Benjamin Netanjahus Regierungskoalition auf den Weg gebrachte Justizreform. Für Saul Friedländer, den mittlerweile mehr als neunzigjährigen, in den USA lebenden israelischen Historiker der Schoa, ist dieser nun vom Krieg stillgestellte Konflikt vergleichbar der Bedrohung Israels durch militärische Angriffe seiner Gegner. Die zitierte Passage stammt aus seinem Buch, das Aufzeichnungen vom Januar bis zum Juli 2023 enthält (Saul Friedländer: "Blick in den Abgrund". Ein israelisches Tagebuch. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C. H. Beck, München 2023. 237 S., geb., 24,- Euro). Gedruckt war es schon vor den grauenhaften Ereignissen seit dem 7. Oktober, die nun unweigerlich den Hintergrund der Lektüre bilden, nämlich einer Kritik an der Politik nicht nur der amtierenden israelischen Regierung, sondern auch politischer Entwicklungen in Israel in den vergangenen Jahrzehnten.
Diese Kritik verliert durch die nunmehr eingetretene Situation nicht an Gewicht, aber sie wird in einem Kontext gelesen, den sie nicht vorhersehen konnte. Terroranschlag und Krieg haben ihn vollkommen verändert. Jede Kritik, die sich Tendenzen israelischer Politik vornimmt, welche sich zuletzt in den Aktionen eines extrem nationalistisch und religiös geprägten Kabinetts niederschlugen, nimmt sich nun wie ein Angebot aus, das Motiv einer politischen Mitverursachung des Terrors anzuschlagen. Man hätte es verstanden, wenn Autor und Verlag sich entschieden hätten, solcher Gefahr lieber zu entgehen.
Als "private Chronik eines fortdauernden Dramas" stellt Friedländer seine Aufzeichnungen vor, als "cri de coeur" angesichts der in Israel erreichten Zustände, in der ein Premier, gezeichnet von "egoistischem Wahnsinn", sich anschickt, "alles zu riskieren, um die eigene Haut zu retten", und dafür Bündnisse mit nationalistisch-religiösen Fanatikern eingeht. Härter kann man kaum formulieren, als wenn Friedländer sich über die "Galerie von Verrückten" in dieser "Siedlerregierung" entrüstet: ein "typisch messianisches Regime, eine Mischung aus extremem Nationalismus und extremer Religiosität, zu der sich noch cliquenhafte und persönliche Interessen gesellen".
Es sind die fassungslosen Kommentare eines Angehörigen des europäisch geprägten, liberalen, der Religion fernstehenden Lagers, der seine Hoffnungen fast schon begraben sieht, aber ihnen noch einmal Rückhalt geben will. Selbst wenn die Rückblenden auf seine über Jahrzehnte gemachten Erfahrungen mit der israelischen Politik, die interessanter noch sind als die Chronik der Ereignisse, eigentlich darauf hinauslaufen, dass da immer Illusionen im Spiel waren, wenn es darum ging, Israel als normale Demokratie europäischen Zuschnitts anzusehen oder zumindest auf dem Weg dorthin.
Die Diagnose ist denkbar grundsätzlich: Ein Staatswesen, das demokratisch und jüdisch sein will, orientiert sich an einem Widerspruch. Und sieht man sich seine Geschichte an, so wurde es nach Friedländer immer schwerer, ihn zu überspielen, insbesondere nach den Eroberungen und Besetzungen von 1967. Er zitiert einen Freund: "Nicht Israel hat die Gebiete annektiert, die Gebiete haben Israel annektiert." Das meint auch: auf der einen Seite "eine unerbittliche Siedlungspolitik, auf der anderen Seite die erbitterte 'Kein Kompromiss mit den Juden'-Haltung der Hamas, des Islamischen Dschihad und, dahinter, des Iran".
Als einen wesentlichen Treiber der von ihm kommentierten rezenten Konflikte macht Friedländer einen alten Gegensatz aus: zwischen den aus Europa stammenden "Aschkenazim" und den aus Nordafrika eingewanderten "Sephardim" oder "Misrachim", zu denen hin sich das demographische und damit auch das politische Gewicht verschoben habe. Grundlage für eine hoffnungsvolle Prognose ist ihm natürlich auch das nicht, selbst wenn er an die landesweiten massiven Proteste zum Schluss "einen Hauch von Optimismus" knüpft. Aber es kam nicht zum Austrag des Konflikts nach der parlamentarischen Sommerpause, es kamen der Terror und der Krieg. HELMUT MAYER
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