Besprechung vom 25.08.2020
Muttersprache verboten
Ein Erfahrungsbericht über die Behandlung von Minderheiten in der chinesischen Provinz Xinjiang
Schon seit vielen Jahren ist an Freiheit in der Autonomen Region Xinjiang (Ostturkestan) im Nordwesten der Volksrepublik China nicht mehr zu denken. In einem zunächst schleichenden, seit 2015 jedoch rasch fortschreitenden Prozess werden in Xinjiang unter dem Vorwand, "Stabilität" erreichen zu wollen, immer mehr Uiguren und Kasachen beinahe jeden Alters in sogenannte "Ausbildungslager" gebracht, um "umerzogen" und dabei auf schlimmste Weise gequält zu werden.
So beschreibt es Sayragul Sauytbay in dem Buch "Die Kronzeugin", das auf Interviews, die Alexandra Cavelius mit Sauytbay geführt hat, beruht. Sauytbay gehört der kasachischen Minderheit Chinas an. Seit Jahrzehnten degradiert Chinas hanchinesisch geprägte Regierung nicht hanchinesische Minderheiten und grenzt sie systematisch aus Politik und Gesellschaft aus. Dieser Prozess hat mit der Präsidentschaft Xi Jinpings an Fahrt gewonnen. Vor allem Muslime wie Uiguren und Kasachen werden seit Jahren mit Terroristen gleichgesetzt und als per se verdächtig behandelt.
"Die Kronzeugin" führt anhand der Biographie Sauytbays langsam an das Kernthema des Buches, die Lager in Xinjiang, heran. Sauytbay wächst als Tochter von Kasachen in Xinjiang auf, lernt Chinesisch, macht einen Universitätsabschluss und arbeitet zunächst als Ärztin. Sie wird sogar Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas. Als sie wegen ihrer kranken Mutter in ihren Heimatort zurückzieht, lässt sie sich zur Lehrerin umschulen. Sie heiratet, bekommt zwei Kinder und erwirbt sich mit ihrem Mann einen gewissen Wohlstand. Zuletzt leitet sie als Direktorin und damit Beamtin mehrere Kindergärten. Ihr Leben scheint ruhig dahinzufließen.
Eine wachsende, von Spannung geprägte hierarchische Abgrenzung von Chinesen zur nichtchinesischen Minderheit der Kasachen ist aber ständig spürbar und verstärkt sich seit 2010 schnell. Zunächst handelt es sich um immer krassere Diskriminierungen, die Sauytbay im Bereich der Sprache, Religion und Kultur der Kasachen und anderer muslimischer Ethnien wahrnimmt. Kasachische Kinder dürfen zum Beispiel ihre Muttersprache in staatlichen Kindergärten nicht mehr sprechen, tun sie es, verkleben die Erzieherinnen ihnen den Mund. Religiöse Merkmale und Traditionen wie Bärte oder Kopftücher werden verboten. Sauytbay und ihr Mann erwägen, nach Kasachstan auszuwandern.
Als schließlich alle Beamte wie Sauytbay ihre Pässe zur Kontrolle abgeben müssen, befürchtet sie, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch die Pässe ihres Mannes und der Kinder eingezogen werden. Die drei sollen unter dem Vorwand, Verwandte besuchen zu wollen, ausreisen, sie selbst plant nachzukommen, sobald sie ihren Pass wiederhat. Sie wird ihre Familie erst achtzehn Monate später wiedersehen. Darüber, was ihr in dieser Zeit passiert, sagt Sauytbay später vor dem Europäischen Parlament in Brüssel aus: über die Situation in einem der Lager, in dem sie ab November 2017 als Ausbilderin tätig sein muss. Darin werden Kasachinnen und Kasachen zwischen 13 und 84 Jahren gefangen gehalten. Sauytbay ist in einer Zelle, die von fünf Kameras überwacht und ständig hell erleuchtet ist, untergebracht. Die Gefangenen leben unter noch viel schlimmeren Bedingungen, in überfüllten Zellen, ohne Toiletten oder fließendes Wasser. Täglich werden sie stundenlang indoktriniert und bei geringsten "Vergehen" letztlich willkürlich gefoltert oder vergewaltigt. Im an die Kulturrevolution gemahnenden Indoktrinierungsunterricht müssen sie stundenlang Parolen wie "Ich bin stolz darauf, ein Chinese zu sein!" oder "Ich liebe Xi Jinping!" wiederholen, Parteilieder singen und schließlich in maoistischem Stil "Selbstkritik" äußern und "Besserung" geloben. Die Nahrungsversorgung ist mangelhaft, besonders zynisch dabei ist, dass die ausnahmslos muslimischen Gefangenen freitags Schweinefleisch essen müssen.
Die chinesische Regierung musste die Existenz der Lager auch aufgrund von Aussagen wie der, die Sauytbay 2018 nach ihrer Flucht nach Kasachstan vor einem dortigen Gericht machte, schließlich zugeben. Zweck und Ausmaß der Lager wurden zudem durch die "China Cables", Satellitenbilder und wissenschaftliche Forschungen bestätigt. Dokumentierte Zeugenaussagen von Geflohenen über die dort angewandten Praktiken gleichen denen Sauytbays.
Nach vier Monaten wird Sauytbay aus dem Lagerdienst entlassen. Die Freiheit ist kurz, bald wird ihr mitgeteilt, dass sie eine "Umschulung", ein Euphemismus für Lagerinternierung, benötige, um ihren "kranken Kopf" in Ordnung zu bringen. Sie schafft es, zu ihrer Familie nach Kasachstan zu fliehen - als eine der ganz wenigen, die ein Lager in Xinjiang von innen gesehen haben. Doch die Situation ist auch in dem von China finanziell und politisch unter Druck gesetzten Kasachstan für Sauytbay nicht sicher. Sie wird festgenommen und soll nach Xinjiang abgeschoben werden. Dank der kasachischen NGO Atajurt sowie internationaler Unterstützung von den Vereinten Nationen und Amnesty International erfährt ihr Fall jedoch eine so breite Öffentlichkeit, dass dies zunächst unmöglich ist. Sie erhält schließlich Bleiberecht. Der lange Arm Pekings macht sich jedoch bemerkbar, als ihr Bleiberecht nicht verlängert wird und wieder die Abschiebung nach Xinjiang droht. Im Juni 2019 findet sie mit ihrer Familie in Schweden Asyl, wo sie bis heute lebt.
Was seit 2015 in Xinjiang geschieht und von Sauytbay geschildert wird, erinnert mehr und mehr an andere diktatorische Regimes der Geschichte, die systematische Genozide betrieben haben. Nicht umsonst werden die Lager, in denen mehr als eine Million Uiguren und Kasachen auf unbestimmte Zeit eingesperrt sind, von vielen als "Konzentrationslager" bezeichnet, was dort geschieht, als "kultureller Genozid" - dies in einem Staat, der sich selbst als vorbildlich in seinem Umgang mit der Corona-Pandemie wahrnimmt, ist er doch durch totalitäre Organisation in der Lage, minutiös zu planen und alles seinen Plänen unterzuordnen. Wie könnten so nicht auch die Lager in Xinjiang optimal organisiert sein? In dem von Peking kontrollierten hypermodernen Überwachungsstaat, zu dem Xinjiang geworden ist, wurde so die perfekt funktionierende Maschinerie eines totalitären Systems etabliert.
Nach wie vor hofft Sauytbay auf stärkere Reaktionen der internationalen Gemeinschaft, die bislang eher zurückhaltend ausgefallen sind. Selbst Staaten wie die Türkei und Kasachstan, die mehrheitlich von turksprachigen Muslimen bewohnt sind und auf deren Unterstützung Uiguren und Kasachen daher besonders hoffen, unterstützen eine Aufklärung der Situation in Xinjiang nicht, obwohl sich vor allem in Kasachstan viele Menschen Sorgen über inhaftierte Verwandte machen. Peking hat es geschafft, die kasachische Regierung durch die Belt and Road Initiative (BRI) besonders eng an sich zu binden. Und so scheint es, dass Sauytbay recht hat mit ihrer Annahme, dass nicht nur BRI, sondern auch die Lager Teil eines langfristigen Plans Chinas zur Kontrolle Zentralasiens sind.
JULIA C. SCHNEIDER
Sayragul Sauytbay/ Alexandra Cavelius: Die Kronzeugin. Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft. Europaverlag, Zürich 2020. 352 S.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.