Besprechung vom 09.08.2023
Trotzdem gastfreundlich
Selahattin Demirtas' bittersüße Kurzgeschichten
Ein aufstrebender Kleinkrimineller steht an der Straßenecke, den Kopf hinter einer Zeitung. Mit dem iPhone am Ohr geht eine junge Frau an ihm vorbei - Pech gehabt, weg ist es, seine erste Tat ist vollbracht. Den Straßenräuber, Gazanfer heißt er, plagt das schlechte Gewissen. Das Raubgut soll zurück zur Besitzerin, denn die ist bestimmt hübsch, und so landet er bei einer revolutionären Studentenzelle. Hier gehört er hin.
Zu diesem einen kommen noch dreizehn andere Schlaglichter, die Selahattin Demirtas auf die türkische Gesellschaft wirft, besser gesagt: auf die kurdische Volksseele in der türkischen Gesellschaft. Stilistisch und inhaltlich knüpft der Autor mit "Kaltfront" an die Geschichtensammlung "Morgengrauen" an, sein literarisches Debüt. Beide hat Demirtas in politischer Haft geschrieben: Seit 2016 sitzt er als Wortführer der linksliberalen HDP im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne - ein bisschen so, als säße ein Allgäuer in Flensburg ein. Von seiner kurdischen Heimat hat sich Demirtas dadurch nicht entfremdet. Und so schreibt er von ostanatolischen Busfahrern, Fabrikarbeitern und arbeitslosen Akademikern, von ihren Lebensgeschichten, Sorgen und Schicksalen. Ganz intim bringt er sie zum Sprechen, aber ohne topisch oder flach zu werden.
Seine Geschichten sind ein Ensemble lauter unerhörter Begebenheiten, sie handeln von Perspektivlosigkeit und Wünschen. Vordergründig lesen sie sich kurzweilig, oft grotesk und zynisch, oft zauberhaft und wärmend, oft friedlich. Sie sind subtile Liebeserklärungen an jedes kleine Lebensprojekt. Demirtas' Texte sind freilich politisch und durchzogen von Misstrauen gegen alles Elitäre und Mächtige, haben aber primär literarischen Anspruch. Nur selten wirken die Szenen plump oder allegorisch. Irgendwie mussten sie ja auch an den Papiertigern von Edirne vorbei.
Gerhard Meier überträgt Demirtas' mal nüchternen, mal innigen Stil großartig ins Deutsche. Eine Feinheit konnte er nicht herüberretten: "Devran", so etwas wie "Schicksal" oder "Los", heißt nicht nur die 2019 erschienene türkische Originalausgabe, sondern auch der Sohn eines kurdischen Bauern in Demirtas' erster Erzählung. Salim, ein hoher Jurist aus Istanbul, fährt durch den anatolischen Schneesturm. Ein inneres Bedürfnis führt ihn in ein kurdisches Bergdorf, weit weg von jeder Stadt. Nach der Ankunft wird er herzlich empfangen, kann sich aber nicht von seinem beißenden Gewissen freisprechen: Vor langer Zeit hatte Salim mitzuverantworten, dass die Justiz ebenjenen Devran zu Tode gefoltert hat. Der kurdische Bauer weiß, wer ihm gegenübersitzt, aber die Sünde erlässt er ihm nicht. Devran schaut Salim von einem Foto aus an - es sollte seine letzte Reise sein.
Die Geschichten sind szenisch und dicht; sie funktionieren eher über Ästhetik und Atmosphäre als darüber, dass der Leser weiß, worum es genau geht. Der eine erklärende Satz ("Ach so!") ist meist einer der letzten - manchmal absurd, aber meist so tragisch und schicksalhaft, dass dem Leser irgendetwas in der Kehle stecken bleibt. Auch wenn er nach der achten oder neunten Geschichte die Seiten schneller umschlägt und meint, so langsam hätte er den Autor und dessen etwas repetitive Wendungen, Figuren und Aussagen kennengelernt, dann liest er: Die Figur hat sich so verhalten, weil das Medikament sie dümmer gemacht hat! Und das Geschenk gibt er der Bettlerin!
Bei der inneren Ruhe vieler dieser Geschichten bleibt ein leichter armutsromantischer Nachgeschmack: Demirtas' Arbeiterfiguren leben in Perspektivlosigkeit und Rückständigkeit, aber trotzdem ist alles irgendwie friedlich, voller Morgennebel und Gastfreundlichkeit. Am Ende steht die Katastrophe oder ein höheres Ideal - das ist kitschig.
Vor wenigen Monaten kündigte Selahattin Demirtas an, sich aus der aktiven Politik zurückzuziehen. Mit seinem zweiten Kurzgeschichtenband hat er nun eine literarische Stimme der Zurückgelassenen in der Türkei vorgelegt. LUCA VAZGEC
Selahattin Demirtas: "Kaltfront". Storys.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Penguin Verlag, München 2023. 158 S., geb.
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