Sergej Lebedew besticht in seinem Roman »Das perfekte Gift« durch schwindelerregende Einblicke in Russlands Abgründe. Bis heute sind Stalins Schatten und der Kalte Krieg zu spüren. Und bis heute fasziniert das perfekte Gift, das nicht nur tötet, sondern Angst verbreitet, die viel giftiger ist als ein chemischer Stoff aus russischen Laboren. Ein fulminanter Roman über Wespenstiche, an denen Geheimagenten sterben, und die Jagd nach einem todbringenden Chemiker.
»Sergej Lebedew schreibt nicht über die Vergangenheit, das hier ist unsere Gegenwart. « Swetlana Alexijewitsch
»Lebedew durchschaut, was die meisten sowjetischen und postsowjetischen Schriftsteller nicht sehen wollten. « Vladimir Sorokin
Besprechung vom 02.08.2021
Totale Zersetzung
Bericht vom Testgelände für den neuen Menschen: Sergej Lebedew führt mit "Das perfekte Gift" ins Innere eines Systems, in dem es kein Vertrauen mehr gibt.
Der Debütant ist deswegen ein so raffiniertes Gift, weil er keine Spuren hinterlässt. Nachdem seine Moleküle den Körper zerstört haben, lösen sie sich buchstäblich in Luft auf, und was der übergelaufene KGB-Offizier Wyrin im ersten Augenblick für einen Wespenstich im Nacken hält, bringt ihm schließlich den Tod.
Der Anschlag findet auf dem Territorium eines westeuropäischen Staates statt, also leitet die Regierung Untersuchungen ein, holt Experten herbei. So wird auch der Chemiker Kalitin plötzlich zur Gefahr für die Drahtzieher: Zu Sowjetzeiten hatte er den sogenannten Debütanten entwickelt und lebt inzwischen ebenfalls im Westen. Zwei KGB-Agenten machen sich also auf den Weg, um auch ihn zu eliminieren.
Aber zurück zur Anfangsszene mit dem vermeintlichen Wespenstich, die vor dem inneren Auge wie ein Kurzfilm abläuft, so lebhaft ist die sommerliche Atmosphäre kurz vor dem Angriff eingefangen, dann die einsetzende Paranoia: "Das perfekte Gift" ist voll von solchen starken Bildern, griffigen Ideen. Ein aufrührerischer Priester, den der Geheimdienst versucht durch schiere Fülle zu zermürben: Zuerst stehen zwanzig nicht bestellte Torten vor seiner Tür, dann Berge von Krempel, am Ende lebende Tiere. Soldaten gehen auf die Jagd nach Affen, die aus einer streng geheimen Versuchsanstalt ausgebrochen sind.
Oder der Chemiker Kalitin, der noch als kleiner Junge heimlich den neuen Morgenrock seiner Mutter anprobiert oder die hochdekorierte Uniform des Onkels. Später dann, an seinem ersten Tag im Labor, den schweren Schutzanzug aus Gummi, in dem er sich selbst nicht wiedererkennt. Kalitin durchläuft diese Transformationen jedes Mal wie Initiationsriten, wird zu einem anderen, zum Teil von etwas Überlebensgroßem. Üblicherweise verhelfen solche Rückblenden ja zu einem besseren Verständnis der Figuren, aber hier machen sie sie undurchdringlicher, machen Kalitin wie seinen Debütanten zum Prototyp eines Staatsapparates, der seine Leute unter aufgeschriebenen Erinnerungen seitenweise, ordnerweise regelrecht begräbt.
Wyrin nennt die Akten, die der KGB über jeden potenziellen Feind und Verräter anlegt, "paranoide Romane", die ihr Subjekt aus Denunziationen, aus Abgelauschtem und Erspähtem neu zusammensetzen. In gewisser Weise ist "Das perfekte Gift" also eine Geistergeschichte, in der sich diese lebenden Schatten, diese papiernen Aktenwesen verselbständigen, in dem sich jeder Idealismus früher oder später so spurlos verflüchtigt wie der Debütant.
Die Romane des heute in Berlin lebenden Journalisten und Schriftstellers Sergej Lebedew haben es nicht leicht in seiner russischen Heimat, Verleger zu finden. Sie erforschen die verdrängte Vergangenheit des Landes, ziehen Linien von der Herrschaft Stalins bis zu Putin. Daran, wie Lebedew Schicht um Schicht Zeitgeschichte aufzuschütten vermag, bis man die real existierenden Vorbilder erkennt, obwohl selten einmal konkrete Ortsnamen fallen, lässt sich auch erahnen, dass er ursprünglich einmal Geologie studiert hat.
Da wären die Solowezki-Inseln, deren Gefängnis auf dem Grund eines Klosters zum Modell für den Gulag wurde, die geschlossene Stadt Schichany, wo um 1930 deutsches und sowjetisches Militär gemeinsam Kampfstoffe entwickelte. Ständig gilt es, während der Lektüre die Lücken mit eigenem Wissen zu füllen, die alsbald Assoziationen zu jüngeren Ereignissen wachrufen: Sergej Skripal, Alexej Nawalnyj, beide höchstwahrscheinlich Opfer des Nervengiftes Nowitschok. "Wen hätten sie im Jahr 1991 schon aufhalten können?", schreibt Lebedew. "Man konnte ja nicht die Menge vergiften. Nun aber, wo es keine Solidarität mehr gab, sondern nur einzelne, isolierte, vor Angst gelähmte Figuren, da waren diese Präparate die beste Lösung."
Dass der Autor es schafft, einem derart von den Hässlichkeiten der Weltpolitik durchseuchten Thema einen so schwebenden Text abzuringen, ist ein Kunststück. Die Eleganz von "Das perfekte Gift" ist auch seinen sorgfältig konstruierten Symmetrien zu verdanken: Ärzte, die Körper retten, stehen Wissenschaftlern gegenüber, die Körper zerstören, die Hybris der Sowjets, gespiegelt vom Überlegenheitsgefühl der Deutschen, deren Zusammenarbeit als höllischer Pakt in die Geschichtsbücher eingeht, während Kalitin sie in seinem Elfenbeinturm als "paradiesische Raum-Zeit-Konstellation" feiert.
Dazu kommt die Symmetrie der beiden Handlungsstränge, die einander in der zweiten Hälfte der Geschichte immer beharrlicher entgegenstreben: Kalitin plant seine Abreise, während die zwei KGB-Agenten sich ihm auf einer verschlungenen Route nähern, die sie aussehen lassen soll wie Touristen. Dabei werden sie immer wieder aufgehalten: vom Zoll, vom Wetter, vom Verkehr, bis sie beginnen, am Schicksal zu zweifeln, an ihrer Mission, aneinander. Nur: Beide werden nach ausgeführtem Auftrag einen Bericht schreiben und das Verhalten des anderen genauestens beurteilen müssen.
Folgt man Lebedews Gedankengang hier konsequent bis zum Ende, dann identifiziert er vor allem dieses grundlegende Vertrauensproblem als das zersetzendste Gift von allen; noch vor dem Machtstreben und der Skrupellosigkeit Einzelner. Er beschreibt ein System, in dem auf der einen Seite ein Wissenschaftler nicht weiß, dass seine Frau ihn bespitzelt, und auf der anderen Seite ihre Verbindungsoffiziere nicht wissen, ob sie ihnen nicht das eigentlich Wissenswerte vorenthält. Ein System, in dem die Leute selbst unumstößlich scheinenden Gewissheiten nicht trauen können und so alle Karten auf das große Ganze setzen, das am Ende ebenfalls zum Zusammenbruch verurteilt ist. Das macht etwas mit den Menschen, und für Kalitin bedeutet es schlicht Realitätsverweigerung: In seiner Weltsicht steht er als Wissenschaftler über den Dingen und erkennt zu spät die Ironie, die darin steckt, dass sein Labor in den Mauern eines ehemaligen Klosters errichtet ist, an den Wänden noch die verblassten Überreste eines Freskos, auf dem das Jüngste Gericht tagt. "Es war Heiligtum, Gefängnis, Altar und Testgelände. Ein neues, synthetisches Wesen, eine von der Außenwelt isolierte Abstraktion. Das Labor." Der Ort, an dem die Utopie umkippt in die Dystopie. "Das perfekte Gift" ist die umfangreiche Akte, der paranoide Roman über ihren Zerfall. KATRIN DOERKSEN.
Sergej Lebedew: "Das perfekte Gift". Roman.
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021. 256 S., geb.
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