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Besprechung vom 05.10.2018
Wir sind Labortiere in einem Feldversuch
Im Kreislauf der Daten und Verhaltenssteuerungen: Shoshana Zuboff analysiert den Überwachungskapitalismus und zeigt, was er mit uns anstellt.
Man mag sich im Westen über die chinesischen Bürger wundern, die sich widerstandslos einem Sozialpunktesystem unterwerfen, das ihr Verhalten bis ins Kleinste belohnt und bestraft. Und darüber aus den Augen verlieren, dass man selbst nicht viel besser verfährt, nur dass die Überwachung im Westen im Namen der unternehmerischen Freiheit erfolgt, ihre Kunden über Konsumanreize zu steuern, und deren Freiheit, sich verführen zu lassen. Schon bald war klar, dass sich dagegen kein breiter Widerstand formieren würde. Warum das so ist, arbeitet Shoshana Zuboff, seit langem eine markante Stimme in der Internetdebatte, bestechend klar heraus.
Die Harvard-Ökonomin lässt drei Komplexe ineinanderfließen, um die seltsame Verhaltensstarre zu erklären: den Neoliberalismus, die behavioristische Verhaltenslehre und die neuen Analysetechniken. Der Neoliberalismus hat laut Zuboff einem manipulativen Geschäftsmodell zur Durchsetzung verholfen, das in den Anfängen auf unternehmerischer wie politischer Seite hoch umstritten war. Der elfte September tat ein Übriges, die politischen Anstrengungen zur sozialen Einhegung der Digitalökonomie zu ersticken. Es war keineswegs klar, schließt Zuboff, dass sich mit Google als Pionier ein Spitzelkapitalismus auf den Weg machen würde, der heute immer mehr Branchen erfasst.
Das Buch hat seine besondere Stärke in der Herleitung der Überwachungsökonomie aus dem Geist eines überschießenden Objektivismus. Das von aller inneren Erfahrung bereinigte Menschenbild des Behaviorismus ist bei Zuboff die Matrix der algorithmischen Kontrolle. Facebook und Konsorten sind die technischen Vollstrecker von B.R. Skinners damals noch auf das Labor beschränktem Traum der totalen Konditionierung. Skinner verachtete die Demokratie, die für ihn auf der Illusion von Freiheit und Würde basierte.
Freiheit und Würde sind auch im Weltbild von Tech-Visionären wie Alex Pentland, dem Erfinder von Google Glass, Fremdwörter und werden von den Tech-Firmen praktisch durch Raubbau an den Grundrechten negiert. Die Tech-Ideologie ist deshalb nicht freiheitlich, sondern ebenso wie das chinesische Modell kollektivistisch geprägt. Sie zielt auf die Steuerbarkeit des Individuums über eine kollektive Rechenintelligenz. Google-Gründer Larry Page hat klar formuliert, dass er daraus einen universalen Auftrag zur technologischen Umgestaltung der Gesellschaft ableitet.
Die politischen Ambitionen eines Mark Zuckerberg, der immer mal wieder als Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht wird, sind deshalb mit keinem festen politischen Programm verbunden, außer dem, die Gesellschaft so zu gestalten, dass sie ideal auf die Gewinnabsichten seines Geschäftsmodells ausgerichtet sind; das erfordert die Produktion von vorhersagbaren Individuen. Denn mit dem Verkauf von Verhaltensvorhersagen machen die Tech-Firmen ihre Gewinne.
Zuboff wendet diese Erkenntnis auf China zurück. Während der chinesische Staat auf die technologische Kontrolle einer Gesellschaft abziele, die nach dem maoistischen Traditionsverlust und einem eruptiven Kapitalisierungsprozess von Misstrauen beherrscht ist, gehe es im Westen um gewinnorientierte Steuerung durch Konsum. Politisch ist das westliche Modell laut Zuboff radikal indifferent, sägt aber an den politischen Institutionen, weshalb unklar ist, mit welchem politischen System es sich in Zukunft verbindet.
Zuboff lässt wenig Zweifel daran, dass eine Demokratie diese Ausprägung des Kapitalismus auf Dauer nicht überleben kann. Die größte Gefahr geht für sie nicht von der Entmachtung politischer Institutionen aus, sondern von der Entmündigung des eigentlichen Souveräns, des Staatsvolks. Man muss hier niemanden vom Sockel stürzen, das machen die User schon selbst. Wie weit deren innere Transformation schon fortgeschritten ist, zeigt sich am ausbleibenden Widerstand. In den achtziger Jahren schlug den behavioristischen Anschauungen noch Abscheu entgegen, ihre technologischen Erben treiben nur noch wenige auf die Barrikaden.
Für Zuboff beweist das den ungeheuren Erfolg der Neuen Ökonomie bei der Ausbeutung innerer Erfahrung. Das Individuum verlasse den Überwachungskreislauf innerlich entleert, von seinem metrischen Abbild erschlagen. User sind für Zuboff Labortiere in einem globalen Feldversuch, dessen Ergebnisse unmittelbar in die Praxis übertragen werden. Wie wörtlich das zu nehmen ist, zeigt sie an Facebooks Emotionserkennung. Um Phasen der Schwäche zu erkennen und darüber den idealen Moment für Kaufanreize zu ermitteln, hat Facebook Tausende australische Schüler heimlich ausspioniert.
Hier geht es nicht nur um Werbeangebote, die man annehmen oder ablehnen könnte, sondern um großflächige Verhaltensmodellierung, die einen bestimmten Lebensstil kopiert. Wenn das Internet der Dinge heraufzieht, wird die Überwachungsökonomie juristisch nicht mehr zu kontrollieren sein. Sie ist es wohl heute schon nicht mehr. Zuboff rechnet vor, dass für einen Thermostat von Google Nest schon heute tausend stillschweigende Verträge zu überprüfen wären.
Die gesellschaftspolitischen Konflikte unserer Zeit sind in dieser Perspektive nur eine Vorderbühne, auf der sich die Akteure gegenseitig diffuse Ängste zuschieben, die angesichts der opaken Überwachungsstrukturen nur zu berechtigt sind. Hier zeigt sich das großes Geschick der Tech-Fürsten, das emanzipatorische Vokabular - Teilhabe, Ermächtigung, Selbstbestimmung - umzudeuten und euphemistisch auf Prozesse anzuwenden, die das Gegenteil bewirken. Der größte Coup der Tech-Firmen war es, die kritische Intelligenz auf ihr eigenes Terrain zu locken, wo sie die Affekte und Ängste schürt, die sie zu kritisieren meint. Die Rückseite des objektivierten Selbst wendet sich als wirrer, nach allen Seiten austeilender Subjektivismus nach außen.
Man kann Zuboff nur darin zustimmen, dass die soziale Einhegung der Plattformökonomie einzig durch konsequente Gesetzgebung zu erreichen ist und nicht durch die Beteiligung der User, was das ausbeuterische Modell nur bestätigen würde. Die Tech-Firmen werden sich jeder Regulierung schon deshalb widersetzen, weil sie nicht anders können. Die KI-Algorithmen sind zur Verbesserung ihrer Treffsicherheit auf immer mehr Daten angewiesen und die Firmen auf immer besser vorhersagbares Verhalten, um im Wettbewerb bestehen zu können.
Wenn es gelänge, die Plattformen und die Branchen, die ihr Modell aufgegriffen haben, durch konsequente Gesetzgebung zu zivilisieren, würde sich ein Teil des Populismusproblems wohl von selbst erledigen. Zuboffs weitsichtiges und mutiges Buch ist ein Ansporn, diese Schlacht zu schlagen. Vielleicht kommt seine Botschaft in der Sprache der IT-Ökonomie besser an: Es geht hier um dich!
THOMAS THIEL
Shoshana Zuboff: "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus".
Aus dem Englischen von Bernhard Schmid.
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2018. 727 S., geb.
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