Siebenundsiebzigjährig meldet sich Siegfried Lenz mit seinem Roman Fundbüro zurück und gibt der geneigten Leserschaft einen beschaulichen Einblick in das Tun seines Protagonisten. Henry Neff, ein junger Mann von 24 Jahren, beginnt seinen ersten Dienst im Fundbüro der Deutschen Bahn zu Hamburg. Er übertritt dabei eine Schwelle, die Milchglasfrontschwelle, die vom kargen Vorraum (des Alltags) zum Reich der verlorenen Gegenstände mit seinen endlos scheinenden langen Regalen führt.
Bald sieht er ein, dass sein anfänglicher Glaube an die Ersetzbarkeit aller Gegenstände ein Irrtum war, denn er interessiert sich für deren Bedeutung und gibt ihnen dadurch ihre "Würde" zurück. Henrys kindliche Neugier und Verspieltheit entstauben den bürokratischen Abstellraum, indem sie seine Aufgaben - die an den verschiedenen Bahnhöfen erst verloren gegangenen und dann gefundenen Gegenstände zu registrieren, Verlustmeldungen entgegenzunehmen und nach dem Verlorenen zu suchen, den wiedergefundenen Gegenstand gegen Gebühr an seinen Eigentümer auszuhändigen - mit Situationskomik aus den Angeln heben. So verlangt Henry von einem Messerwerfer, der seinen Arbeitskoffer verloren hatte, als Beweis, dass dieser der rechtmäßige Eigentümer ist, nicht etwa dessen Ausweis, sondern eine Kostprobe seines Könnens, eine Schauspielerin muss ihren Text rezitieren, um ihr Skript zurückzuerhalten und zwei kleine Mädchen müssen auf der wiedergefundenen Flöte erst etwas vorspielen. Durch eine liegengebliebene Aktentasche findet Henry einen neuen Freund - den baschkirischen Mathematikdoktor Fedor Lagutin. Bringt er diesem doch die Tasche höchstpersönlich im Hotel vorbei und lernt ihn bei einem Tee am Nachmittag näher kennen.
Es entblättert sich ein Reigen von Geschichten, die im Einbahnstraßenformat auf Henrys neues symbolisches Zuhause, das Fundbüro, verweisen, die jedoch auf Kosten jeglicher Charaktertiefe der Personen amüsieren. Henrys Schwester lernt Lagutin kennen und verliebt sich in ihn, Henry wirbt um die Gunst seiner Kollegin Paula, die wiederum mit einem Synchronsprecher verheiratet ist, der Vater seines Vorgesetzten Albert Bußmann leidet an Alzheimer und so weiter. Immer wird etwas gefunden oder geht wieder verloren: ein Lottoschein, ein Eishockeyspiel, ein Herz, die zweite Heimat, das Gesicht, eine Illusion. Durch Henry wird die Frage, wer oder was zu wem gehört, zur Frage nach Zufall oder Schicksal. Eine Frage, die ansatzweise parabolisch von Lagutins Kollege Professor Cassou auf einer Studentenfete beantwortet wird, denn er glaubt ob seiner Biografie an "ein bestimmtes Mysterium des Findens oder, genauer, des Wiederfindens". Inmitten der zirkulierenden Gegenstände und für Henry gefundenen weil neu gemachten Erfahrungen aber muss auch ein Bruch stattfinden, ein Verlust, der Henrys postpubertärem Gebaren bzw. seinem individualistischen Zufallsprinzip Einhalt gebietet.
Im Zuge der Rationalisierungsmaßnahmen der Deutschen Bahn wird Bußmann gekündigt; Henry, der längst gelernt hat, dass Gegenstände und Menschen nicht so einfach ersetzt bzw. ausgetauscht werden können, spricht bei seinem Onkel, der Bereichsleiter bei der Bahn ist, vor, um Bußmanns Bleiben zu sichern, indem er freiwillig geht. Es gelingt ihm nicht. Auch verliert er Lagutin, denn der gibt seine zweite Heimat wegen der gegen ihn gerichteten Fremdenfeindlichkeit wieder auf. Die Gruppe pöbelnder Motorradfreaks vor Henrys Hochhaussiedlung, die Henry regelmäßig bedroht, ist auch über Lagutin hergefallen. Der Verlust des Freundes verhilft Henry aber zum Gewinn an Zivilcourage, denn als die Gruppe den Postboten attackiert, greift Henry zum Hockeyschläger und wehrt sich. Die Moral von der Geschicht geht ohne großen Aufruhr darin über, dass Henry als von allen anerkannter Hüter der gralsburgartigen Festung für Verluste zum Vertreter des Chefs ernannt wird und eigentlich alles so ist wie am Anfang. Oder?
Abgesehen von mancher subtilen Detailverliebtheit rund um das Finden und Gefundenwerden, die das Lesen mitunter zu einem angenehmen Dahinplätschern macht, ist Fundbüro weniger "warmherzig und mitfühlend" (so der Klappentext) als altbacken und lieb. Lieb, weil das gewollte Hineinversetzen in Henry Neff so rührend ist. Irgendwie drängen sich beim Lesen Bilder aus den Fünfzigern auf. Der anständige, adrette junge Mann zwischen Jubiläumsaquavit und gefüllten Cognacbohnen, der bedruckte Lesezeichen sammelt, wirkt wie ein wandelnder Anachronismus, wie das kleine HB-Männchen, das sich mit heiter Miene durch den Tag laviert. Würden nicht etwa die EU-Verhandlungen über die Osterweiterung in Genf oder Claudia Schiffer erwähnt, ginge man wohl keineswegs davon aus, dass Fundbüro in den neunziger Jahren spielen soll. Dazu kommen noch diverse Beschreibungen, die salopp klingen wollen, aber überhaupt nicht ins Bild passen, wie die hemmungslose und sinnfreie Beschreibung des Büffets ("ein von kränkelnder Blässe gezeichneter Nudelsalat"!) auf der Studentenfete; oder die unsäglich langatmige Beschreibung eines Kinofilms, den Henry und Paula nur besuchen, weil ihr Mann eine Person synchronisiert. "Der Vogelwart". Eine langweilige Dreiecksgeschichte, die in Irland spielt und die nicht zu ende erzählt wird.
Fundbüro unterhält wie der Kinofilm, der für das Kino zu langweilig ist, über den man sich aber freut, wenn er im Fernsehen kommt.
(c) www.literature.de - Das Literaturportal