Besprechung vom 23.09.2020
Wie der Golem nach Reykjavik kam
Umfangreich, surrealistisch verspielt und mit aufklärerischem Impetus: "CoDex 1962", das Opus magnum des isländischen Schriftstellers Sjón
"Lass den Leser seine Arbeit tun", erklärte Sjón nach dem Abschluss seines Riesenwerkes "CoDex 1962". Und tatsächlich bleibt dem Leser während und nach der Lektüre etliches zu tun, denn die Geschlossenheit des Ganzen und seine klare Struktur offenbaren sich erst im Rückblick. Eine gewaltige Trias, ein beklemmendes und hochironisches Triptychon, lustvoll ausgemalt wie von Hieronymus Bosch und ebenso der Aufklärung verpflichtet wie etwa dessen dreiteiliges Gemälde "Der Heuwagen". Man verliert sich beim Lesen in tausend witzigen Einzelheiten, freut sich an den Tricks und Volten des Autors, genießt dessen Anspielungen auf alchemistisches Wissen und erkennt in vielen Szenen die magische Traumwelt aus den "Zimtläden" von Bruno Schulz. Ein ehrwürdiger Hallraum, aber schließlich erzählt uns Sjón (bürgerlich Sigurjon Birgir Sigurdsson) nichts Geringeres als eine moderne Geschichte des Golems.
Inspiriert wurde er vom Grab des Rabbi Löw in Prag: In persönlicher Not habe er dort den Rabbi um Hilfe gebeten und versprochen, dafür eine isländische Golem-Geschichte zu schreiben. Sein Problem löste sich in Windeseile, also musste er sich an die Arbeit machen.
"CoDex 1962" vereint drei frühere Werke, die im Original 1994, 2001 und 2016 erschienen sind: die Liebesgeschichte "Deine Augen sahen mich", dann die Kriminalgeschichte "Islands tausend Jahre", die auch eine Eloge auf die isländische Sprache ist, und zuletzt die surreale Science-Fiction "Ich bin eine schlafende Tür". Für die von Betty Wahl hochmusikalisch und schwungvoll übersetzte Trilogie hat der Autor einige rote Fäden eingezogen, so die geheimnisvolle Interviewerin, die den gerne abschweifenden Erzähler immer wieder zur Ordnung ruft. Erst im dritten Teil klärt sich auf, dass sie im Auftrag des Genforschungsinstitutes CoDex unterwegs ist, um von der Hauptfigur des Romans, Josef Löwe, etwas über Geburtsort, Geburtsjahr und Eltern zu erfahren - ideal, um ein halbes Jahrhundert zu erzählen.
Immer war die Frage nach der Herkunft eines Menschen politisch brisant und oft lebensentscheidend. Der Roman beginnt in einem fiktiven Städtchen in Norddeutschland, die Nationalsozialisten sind an der Macht, und im örtlichen Gasthof, ehedem ein Bordell, taucht ein zerlumpter, zu Tode erschöpfter Flüchtling auf. Das Dienstmädchen Marie-Sophie wird beauftragt, ihn rund um die Uhr zu pflegen, und da der "arme Teufel" scheinbar die meiste Zeit schläft, erzählt sie ihm alles, was sie auf dem Herzen hat, und das ist eine ganze Menge, denn die Zeiten sind unfreundlich, und ihr Verlobter, ein heimlicher Kommunist, ist es auch.
Diese beiden werden Vater und Mutter des Erzählers, aber mit seiner Zeugung - einer der schönsten Szenen des Romans - hat es eine besondere Bewandtnis. Sein Vater, ein Prager Jude, formt ihn aus dem Lehm, den er vom Grundstück der alten Synagoge in Prag mitgebracht und in einer Hutschachtel durch alle Gefahren des Lagers gerettet hat. Zuletzt griff Löwe nach einem Etui "und entnahm ihm zwei braune Augen sowie zwei winzige Ausschnitte aus einer Filmrolle - der eine zeigte Adolf Hitler am Rednerpult, auf dem anderen saß ebendieser am Tisch und wischte sich einen Soßenfleck von der Krawatte - diese Filmschnipsel legte er jeweils auf den Grund der beiden Augenhöhlen, setzte die Augen von oben hinein und verrieb sie an den Rändern mit Lehm, den er unter seinen Fingernägeln hervorkratze. Das Werk war vollendet."
Im zentralen Teil der Trilogie kämpft Löwe darum, seinen Lehm-Sohn Josef zum Leben zu erwecken, denn das goldene Siegel, das dafür nötig ist, wurde ihm auf dem Schiff nach Island abgenommen. Auch dieser Teil, der sich in eine groteske und überdrehte Action-Handlung kleidet, ist eigentlich eine Geburtsgeschichte, nur in anderem Rhythmus erzählt und mit anderen Motiven ausgeschmückt. Die Golem-Sage von Gustav Meyrink, die Sjón begeistert gelesen hat, liefert die düster-spukhafte Stimmung und das Handlungsgerüst des ersten und zweiten Teiles. Beide Stücke ergänzen und steigern einander wunderbar, auch wenn manche der unzähligen Erzählfäden ins Nichts führen und viele Personen, alles schräge, eigensinnige Typen wie der Erzähler selbst, so schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind - ein breites Betätigungsfeld für seine Phantasie. Schließlich soll der Leser das Werk ja vollenden, so des Autors Credo.
Sjón, der für seine Liedtexte in Lars von Triers Film "Dancer in the Dark", gesungen von Björk, für einen Oskar nominiert wurde, war als junger Autor bekennender Surrealist, als der er auch im Roman einen kurzen Gastauftritt hat. Überdies hat er sich intensiv mit kabbalistischen und chassidischen Legenden beschäftigt. Der Erzengel Gabriel, der leicht verwirrt durch den Roman stolpert, entstammt eher dem Talmud als der christlichen Überlieferung. Dort gilt er als Beschützer der Juden und der Visionen, so dass Sjón im Roman sagen kann, seinen eigenen Namen spreche man wie "Vision" aus. "Ich bin ein Riesenrad, ich bin ein Schneckenhaus, ich bin eine schlafende Tür" fügt er hinzu - diese Kürzest-Poetik kann man auch als Quintessenz des Romans lesen.
In den neunziger Jahren wurde in Island das Genforschungs-Institut DeCode Genetics mit dem Ziel gegründet, die Genstruktur sämtlicher Isländer zu entschlüsseln und zu speichern. Ein hybrides und nicht ungefährliches Unterfangen, das vor allem von nationalistischen Kreisen unterstützt wurde. Bei Sjón heißt das Unternehmen "CoDex 1962", anspielend auf das Geburtsdatum Josef Löwes am 27. August 1962 - auch der Autor wurde an diesem Tag geboren. Alle Figuren dieser melancholischen Science-Fiction-Geschichte sind genetische Sonderfälle, aber nur Josef kann sich an seine Geburt erinnern, worauf er stolz ist.
Vergnüglich und leichthändig erzählt, tritt in diesem dritten Teil des Triptychons das politisch-aufklärerische Anliegen des Romans klar hervor. Der böse groteske Humor der politischen Szenen ist eine der großen Stärken des Romans, und in immer neuen, eindringlichen Bildern beklagt Sjón menschliche Arroganz und totalitäres Machtstreben. Dabei erzählt er die Geschichte des jüdischen Flüchtlings Josef zu Ende, der endlich in Island eingebürgert wird.
NICOLE HENNEBERG
Sjón: "CoDex 1962".
Roman.
Aus dem Isländischen von Betty Wahl. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 640 S., geb.
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