Besprechung vom 15.07.2024
Achterbahnfahrten zwischen Euphorie und Demütigung
Robert Levin bringt in Stefan Zweigs einzigem vollendeten Roman "Ungeduld des Herzens" psychologische Nuancen zum Klingen
Zugegeben, "Ungeduld des Herzens" klingt etwas kitschverdächtig. Stefan Zweigs alternativer Titel "Mord durch Mitleid" wäre besser gewesen. Denn genau darum geht es im einzigen vollendeten Roman des Autors aus dem Jahr 1938.
Die Geschichte spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg und beginnt mit einer Peinlichkeit. Der junge Leutnant Anton Hofmiller ist in einer kleinen österreichisch-ungarischen Garnisonsstadt stationiert. In der provinziellen Einöde bieten nur die Feste der reichen Adelsfamilie Kekesfalva Abwechslung. Kaum erstaunlich, dass Hofmiller bei seiner ersten Einladung in einen Glücksrausch gerät und schließlich auch die siebzehnjährige Tochter des Hauses zum Tanz auffordert. Er hat nicht bemerkt, dass Edith von Kekesfalva von der Hüfte abwärts gelähmt ist. Das Mädchen reagiert verstört, wuchtet sich zitternd hoch, droht zu stürzen, die Krücken krachen zu Boden, Helfer eilen herbei, die Musik setzt aus. Ein Affront - missbilligende, ironische Blicke treffen Hofmiller, der sich vernichtet fühlt: "Morgen läuft, von hundert Lippen zerschmatzt, der Schwatz über meine rohe Ungeschicklichkeit durch die ganze Stadt. (...) Morgen weiß man's in meinem Regiment. Monate wird dieses Hecheln und Höhnen noch weitergehen bei der Offiziersmesse; jede Eselei verewigt sich."
Hofmiller ist eben keine spätmoderne singuläre Existenz, die sich mit einem "Blöd gelaufen" einfach abwenden könnte vom Schauplatz der Eselei. Er ist als Offizier eingesponnen in ein Netz von Ehrbegriffen. So wundert es nicht, dass er schon am Ende dieser Gedankenflucht beim Selbstmord als letztem Ausweg ankommt.
Stefan Zweig ist in seinem Element - der "Verwirrung der Gefühle". Man wird beim Zuhören eingefangen von seiner feinnervigen Seelennotstandsprosa. Nicht das Geschehen selbst, sondern das gefühlsmäßige Erleben steht bei Zweig im Mittelpunkt. Dieser Autor ist der Anti-Lakoniker. Gefühle nur indirekt andeuten? Niemals! Alles wird nuanciert ausformuliert. Und Robert Levin bringt jede dieser psychologischen Nuancen in seiner passionierten Lesung des Romans zum Ausdruck. Er ist die Idealbesetzung. Seine Stimme hat ein maskulines Timbre, das Hofmiller als Ich-Erzähler in Uniform bestens passt, und gerade deshalb kann sich Levin zugleich ein Pathos der Einfühlung erlauben, das niemals hohl dreht.
Hofmiller erschießt sich dann doch nicht, sondern kauft einen üppigen Blumenstrauß. Edith verzeiht ihm, und bald besucht er sie regelmäßig. Was den aus unterprivilegierten Verhältnissen stammenden, sozial unsicheren Leutnant dabei anspornt, ist ein Gemisch der Motive: das Schuldgefühl, seine eigene "Gesundheitsscham", das belebende Bewusstsein, Gutes zu tun und bei wohlhabenden Leuten ein und aus zu gehen. Hofmiller spürt, dass er hier Macht hat. Edith und ihr Vater warten täglich auf seinen Besuch. So verfällt er dem Mitleid wie "einer dunklen Leidenschaft". Es ist viel von Nietzsche gelernte Psychologie in diesem Roman, auch wenn es um die Aggressionen der verwöhnten und egozentrischen Kranken geht, den herrischen Ton, mit dem sie manchmal ihre Umgebung terrorisiert.
Zum Hörvergnügen tragen die markanten Charaktere bei. Dazu gehört Ediths Arzt Doktor Condor, ein Mann, der hinter einer gänzlich unscheinbaren Fassade sein medizinisches Genie verbirgt, das dann umso verblüffender in den Dialogen zur Geltung kommt. Condor ist der Vertreter des wahren, nicht sentimentalen, sondern tatkräftigen Mitleids, wie es sich in der aufopferungsvollen Arbeit für seine Patienten zeigt. Eine weitere spannungsvolle Figur ist der alte Kekesfalva, der nicht, wie der ständig irrende Hofmiller vermutet, als Vertreter der alten ungarischen Aristokratie geboren wurde, sondern als bettelarmer Jude. Dank Intelligenz und Geschäftssinn ist ihm ein fulminanter gesellschaftlicher Aufstieg geglückt, den aus Angst vor antisemitischen Stereotypen heute kein Autor mehr so zu erzählen wagte. Zweig behauptet die krassen, melodramatischen Wendungen indes nicht nur; er vergegenwärtigt sie in mitreißenden Szenen und Dialogen, die wie für eine expressive Hörbuchinszenierung geschrieben scheinen.
Hofmiller genießt sein Samaritertum und merkt nicht, dass er mit dem Feuer spielt. Denn Edith verliebt sich in ihn. Er kann kaum fassen, dass eine Gelähmte solche leidenschaftlichen Gefühle entwickelt, wo es in Romanen und Filmen doch immer schöne und gesunde Menschen sind, die lieben. Nun muss er feststellen, dass gerade die "Gezeichneten", "Verkümmerten" und "Zurückgestoßenen" mit einer "viel gefährlicheren Gier begehren als die Glücklichen und Gesunden, dass sie lieben mit einer finsteren, einer schwarzen Liebe". Für Hofmiller wird die Wirklichkeit zunehmend zum Albtraum, und die Nächte, in denen er sich verfolgt fühlt vom Tock-Tock der Krücken, kommen ihm immer realer vor.
In seiner Not macht er fatale Versprechungen. Einerseits will er die Kranke nicht kränken, andererseits weiß er, dass er sich durch eine Beziehung mit einem behinderten jüdischen Mädchen zum Gespött unter den Offizierskameraden und in seiner antisemitischen Verwandtschaft machen würde. Und das erträgt sein dünn gepanzertes soldatisches Selbst nicht. Aber wie er sich auch windet und taktiert, er rutscht nur tiefer in die Falle, bis sein Eheversprechen so drohend am Horizont steht wie der ganze Erste Weltkrieg, auf den der Roman hinausläuft. Es kann nicht gut gehen.
Mit der Darstellung einer behinderten jungen Frau hat Stefan Zweig - wenige Jahre vor den nationalsozialistischen Krankenmorden - ein brisantes Thema aufgegriffen, das bis dahin in der Literatur in dieser Breite kaum vorkam. Natürlich sollte man nicht erwarten, dass Zweigs Figuren im Stil heutiger Ableismus-Diskurse argumentieren; aber sein Roman bietet viel Material für eine Kulturgeschichte des "Handicaps".
Robert Levin ist der verlässliche Pilot für Zweigs Achterbahnfahrten des Gefühls zwischen Euphorie und Demütigung. Zur Sorgfalt dieser WDR-Produktion gehört die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thomas Leutzbach. Gemeinsam hat man sich um den richtigen Ton und die angemessenen Sprechhaltungen bemüht; mitunter wurden ganze Kapitel noch einmal aufgenommen, auf veränderter gedanklicher Grundlage. Man hört "Ungeduld des Herzens" als immer noch aktuellen Beitrag zur Empathiedebatte unserer Zeit. Kaum ein Schriftsteller verstand sich auf die literarischen Techniken und Kniffe der Einfühlung so wie Stefan Zweig - umso mehr war er prädestiniert, die Grenzen und die Abgründe des Mitgefühls auszuloten. WOLFGANG SCHNEIDER
Stefan Zweig: "Ungeduld des Herzens".
Ungekürzte Lesung mit Robert Levin. DAV,
Berlin 2024. 2 MP3-CDs, 850 Min.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Ungeduld des Herzens" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.