Besprechung vom 06.01.2020
Tote, die der Zeit gehören
Stephen Chbosky folgt den Spuren Stephen Kings
Mill Grove nennt der amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Stephen Chbosky den Ort, an dem seine Geschichten zu Hause sind. Sowohl das Highschool-Drama "Das also ist mein Leben", das vor zwanzig Jahren erschien und in Chboskys eigener Verfilmung ein Welterfolg wurde, spielt in diesem fiktiven Vorort von Pittsburgh, als auch der neue Roman "Der unsichtbare Freund". Er erzählt vom siebenjährigen Christopher, der mit seiner Mutter aus Michigan nach Pennsylvania geflohen ist - vor Kates gewalttätigen Lebensgefährten. Jetzt versuchen Mutter und Sohn in Mill Grove neu anzufangen.
Aber dann verschwindet Christopher sechs Tage lang, und als er wiederauftaucht ist er verwandelt in ein Wunderkind, halb Heiler, halb Seher. Christopher kann sich an nichts erinnern, es lockt ihn aber Nacht für Nacht in den Missionswald vor seinem Haus zurück. Er baut ein Baumhaus, aber wofür? Seiner Mutter, seiner Lehrerin, seinen Freunden ist er ein Rätsel - das auf neunhundert Seiten gelöst wird. Am Ende ist in Mill Grove nichts mehr wie zuvor.
Eine kleine Stadt mit einer ominösen Unterwelt, in die es Kinder hinabzieht. Eine Welle der Gewalt, welche bald die ganze Stadt erfasst. Eine zusammengewürfelte Gruppe von Aufrechten, die sich ihr stellt, doch nur die Kinder selbst können das Chaos aufhalten. Fiese Autoritäten (Bauunternehmer, Ärzte, Lehrerinnen, Eltern), ein Zimmer mit der Nummer 217 - Chbosky nimmt Maß an Stephen King, dessen Mill Grove mal Derry heißt, mal Castle Rock. Und er macht auch gar kein Geheimnis daraus, weswegen sich sein enorm langes Buch auch eignet, die Pause zwischen dem letzten King ("Das Institut", ebenfalls bei Heyne erschienen) und dem nächsten zu überbrücken.
Das ist zwar ein wenig so, als würde man einer Tribute-Band beim Nachspielen der größten Hits zuhören. Aber Chbosky trifft diesen Ton gut, den King ihm vorgegeben hat: Jenen höheren Ernst von Kindern, die sich gegen eine feindliche Welt selbstsüchtiger, brutaler Erwachsener stellen. Andererseits ist Chbosky nicht nur irgendein Epigone. Ihm war gleich mit seinem Debüt im Jahr 1999 (verfilmt dann 2012 mit Emma Watson) ein Generationenroman gelungen, über Außenseiter, über Trauma und Freundschaft und Familie. Hier schreibt also ein erfolgreicher, ehrgeiziger Schriftsteller, ein katholischer zudem. Weswegen Chbosky seine Geschichte, die sich formal ohnehin schon zwischen Thriller, Horror und Fantasy bewegt, zu einem christlichen Gleichnis ausweitet, je länger sie dauert. Womit sich Chbosky dann aber wieder von seinem hohen Vorbild Stephen King emanzipiert. Für den nämlich ist das Böse menschengemacht oder einfach in die Welt geworfen, aber nicht Teil eines Schöpfungsplans.
Mill Grove jedoch ringt nicht nur mit Schuld, büßt nicht nur für Sünden - es wird auch zum Schauplatz eines biblischen Endkampfs zwischen dem Erlöserkind Christopher und dem ewigen Widersacher, kleiner geht es hier nicht. "Wie leicht", lässt Chbosky den einmal sagen, "konnte er Menschen dazu bringen, sich wegen Dingen zu töten, die letztlich doch nur der Zeit gehörten." Dieser eigenartige, spannende, vollgestopfte Roman spielt zwar in der Gegenwart, rechnet aber in Äonen.
"Der unsichtbare Freund" wurde in den Vereinigten Staaten sofort ein Bestseller und in fünfundzwanzig Sprachen verkauft, Chbosky arbeitet schon am Drehbuch; offen, ob für einen Spielfilm oder eine Serie ("Jericho", das er für CBS produzierte, lief im deutschen Fernsehen vor Jahren auf Pro Sieben). Er hat seit seinem ersten Buch also vor allem in Bildern gedacht, den Sog seines Fantasythrillers entfaltet er deswegen effektiv, aber doch auf Kosten jenes erzählerischen Leerlaufs, den sein großes Vorbild Stephen King so gut beherrscht: Dieser ausgemalte Alltag aus Frühstück, Autowäsche, Hosenkaufen, in den dann das Böse umso böser einbricht. Chboskys Roman dagegen rast von Schlüsselszene zu Schlüsselszene. Es kostet Kraft, dieses Tempo zu halten.
TOBIAS RÜTHER
Stephen Chbosky: "Der unsichtbare Freund". Roman.
Aus dem Englischen
von Friedrich Mader.
Heyne Verlag,
München 2019.
912 S., geb.
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