Besprechung vom 12.03.2022
Meinen Sie, Wolfsburg zum Beispiel sei ein besserer Ort?
Sven Pfizenmaier erzählt in seinem funkelnden Debütroman von der Unwirklichkeit der Provinz.
Von Thomas Thiel
Das Dorf liegt unweit von Hannover und hat keinen Namen. Gemeinsam ist seinen Bewohnern die umfassende Verlegenheit, was sie mit sich anstellen sollen. Sie träumen den Traum von einem anderen Leben, der dort, wo sie wohnen, nicht wahr werden kann. Das Dorf ist kein Dorf mehr, es ähnelt einer Vorstadt, die Traditionen sind verblasst, der Zusammenhalt ist dahin. Neu hinzugezogene Einwohner aus Russland und Kasachstan haben ihre Gewohnheiten mitgebracht, die sie in den eigenen vier Wänden ausleben, ihre Kinder befinden sich im Nirgendwo dazwischen. Man geht Freundschaften ein, um sich am anderen zu wärmen. In den Familien geht man sich aus dem Weg. Ab und zu fährt man nach Hannover.
Dort lebt der Drogenkönig Rasputin, ein profaner Erlöser, der tief in die Herzen der Menschen schaut. Er sieht dort Einsamkeit, Traurigkeit, verletzte Gefühle. Er weiß, dass eine Gesellschaft, die sich mit Integrationsprosa schmückt und mit Werbesprüchen durch die Seelen frisst, keine Heimat sein kann. Rasputin verspricht Erlösung: ein anderer Ort, keiner kennt ihn, keiner kam je zurück, dorthin will er seine wachsende Anhängerschar bringen. Ein Jugendlicher nach dem anderen verschwindet. Im Dorf ist man ratlos.
Neben seiner, wie man später erfährt, sehr geschäftstüchtigen Utopie verkauft dieser Drogenbaron Amphetamine. Die richtige Partydroge für die frustrierte Dorfjugend; der Stoff macht Karriere und läuft dem Besäufnis den Rang ab. Rasputin, der im Körper einer Eule lebt, hat seinen Wagen seit dreißig Jahren nicht mehr verlassen. In einer mobilen Gesellschaft, meint er, könne nur Bewegung Geborgenheit verschaffen und Schutz vor der Polizei. Wer sich mit ihm treffen will, muss eine komplizierte Anreise in Kauf nehmen, bei dem sich der Besucher über ein Brett zwischen zwei fahrenden Autos in die rollende Behausung seines Gastgebers hinüberrobben muss. Er wird belohnt mit einem Mix aus philosophischer Lebenshilfe und konkreten Konsumangeboten.
Eine verrückte Geschichte, nahe am Unsinn gebaut, aber kein Klamauk. Man kann ein Dorf, das kein Dorf mehr ist, in einer Elegie oder einer Satire beschreiben. Sven Pfizenmaier wählt in seinem funkelnden Debütroman konsequent den zweiten Weg. Er übertreibt maßlos. Es gibt einen Jugendlichen, der die Physiognomie einer Pflanze hat, einen anderen, der allein durch seine Anwesenheit allen anderen die Lebenskraft aus den Knochen saugt, eine Dorfkneipe, wo der Nachwuchs gezeugt wird, und drei beklagenswerte Kleinkriminelle. Daneben gibt es jede Menge kaputte Familien.
Dass dieser moderne Schwank nicht in den Nonsense abdriftet, liegt zum einen an der sprachlichen Begabung des Autors. Sven Pfizenmaier schildert die ungelenken Fluchtversuche der Dorfbewohner mit einer geschliffenen Ironie, die selbst dem vergeblichsten Tun noch einen Anflug von Bedeutsamkeit gibt. Manche Sätze möchte man sich einrahmen, etwa: "Er wanderte wie ein Grafikfehler durch den Rewe." Darüber hinaus hat der Autor ein Gefühl für den Jargon der Dorfjugend, er trifft den Ton und stürzt sich mit Lust in den Exzess, kann aber auch Dingen Gewicht verleihen, etwa der Nachricht vom Tod eines nahen Verwandten: "Der Satz (Dein Vater ist gestorben, Anm. der Red) verschwindet so, wie er gesagt wurde, obwohl er stehen bleiben müsste. Er müsste sich betrachten lassen, zu allen Seiten drehen und wenden lassen, um sich begreifen zu lassen, doch er verpufft in der Küche wie jeder andere Satz auch."
Im Grunde verpufft alles an diesem Ort. Jede Lebensregung ist ein Anrennen gegen unsichtbare Wände, die zwischen Müttern und Söhnen, Vätern und Töchtern, Innen- und Außenwelt stehen. Nur der kollektive Rausch stiftet für einen Moment Versöhnung. Auf diesem Boden wachsen utopische Sehnsüchte, die hart an den Strukturen aufschlagen: "Valeries Träume geben ihr nichts zum Nachdenken, sie stecken einfach in ihren Knochen und lassen Wirklichkeiten verblassen."
Sven Pfizenmaier hat einen scharfen Blick auf die dörflichen Strukturen, die es unmöglich machen, dass sich zumindest zwischen einzelnen Bewohnern so etwas wie Vertrautheit oder Harmonie einstellt. Das Dorf steckt in einem Rahmen aus Wirtschafts- und Infrastrukturplänen, an denen das individuelle Glücksstreben keinen Ansatzpunkt findet. Selbst die Versuche, die falsche Haut abzustreifen, wird von dem gerissenen Drogenbaron seelisch und ökonomisch ausgebeutet. Der Gemeinderat macht es nicht besser. Er versucht den Exodus der Dorfjugend mit einer Marketingkampagne zu stoppen, die das Dorf wie eine Kristallkugel glänzen lässt. Die Dorfjugendlichen nehmen die Ermittlungen auf, überanstrengen sich dabei aber nicht. So bleibt der Krimi-Plot auf der Strecke, und das Dorf, das ist der Preis für den Versuch, Unwirklichkeit mit Unwirklichkeit zu toppen, wirkt immer weiter in eine virtuelle Distanz gerückt. Der Zugewinn an Originalität geht im Ganzen doch auf Kosten des Individuellen.
"Draußen feiern die Leute" ist kein Roman über die Peinlichkeit der Provinz, nach dem raffinierten Lebensstil der urbanen Mittelschicht streckt sich niemand, elektronische Unterhaltungsmöglichkeiten werden souverän ignoriert, die Stadt ist keine Lösung, daran lässt Sven Pfizenmaier mit einer grandiosen Wolfsburg-Satire keinen Zweifel. Wenigstens haben die Dorfbewohner nicht diesen Serviceglanz in den Augen wie die Bürger der Autostadt.
Der Roman beschreibt die Unwirklichkeit einer Provinz, die Landlust nur im Exzess empfindet. Das mag man als etwas simpel gestrickt empfinden oder als Blindheit für die moderne Dorfwirklichkeit, deren Bewohner vielleicht auch andere Wege als den Alkohol finden, um sich doch etwas näher als Städter zu sein. Aber man kann heute stundenlang über die Dörfer fahren, ohne einen einzigen Menschen zu sehen, und wenn einem jemand erzählen würde, sie wären an einen fernen unbekannten Ort verzogen, um nie mehr wiederzukommen, dann würde man ihm das glauben.
Sven Pfizenmaier:
"Draußen feiern die Leute". Roman.
Verlag Kein & Aber, Zürich 2022. 336 S., geb.
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