Besprechung vom 23.10.2024
Menschen mit toxischer Kreativität
Im Zweifelsfall arbeiten die Feierbiester mit am eigenen Untergang: Sven Pfizenmaiers Roman "Schwätzer" ist eine sozialkritische, ziemlich absurde Berlin-Phantasie.
Die "Kryptoenzyklopädistin" Lea Gramsch-Bockermann und ihre WG-Genossin Svea Bock-Grammeljahnn haben einen krisensicheren Vollzeitjob beim Bundesministerium für Irreales (BMIr). In der Abteilung "Fiktionalliquidierung" geht es ihnen ums Ausfindigmachen von Menschen mit "toxischer Kreativität" und die gezielte Hinrichtung dieser Phantasien - "zur Bewahrung der Demokratie". Man wüsste zu gern, ob sich Lea und Svea dienstlich auch mit dem Autor Sven Pfizenmaier befassen mussten.
Pfizenmaier, 1991 in Celle geboren und in der niedersächsischen Provinz aufgewachsen, siedelte seine schräge Dystopie "Draußen feiern die Leute" (2022) zwei Regionalbahnstationen von Hannover entfernt an - in einer Gegenwart, die unserer ähnelt, letztlich jedoch ein geheimnisvoller, von der Realität entrückter Ort ist, sprechende Tiere inbegriffen. Wir wissen nicht, ob und wie das BMIr Pfizenmaiers Parallelwelt aus jugendlicher Lebensverlorenheit, Zukunftsängsten und pubertären Fremdheitsgefühlen würdigte - im real existierenden Literaturbetrieb erhielt der Roman jedenfalls den "Aspekte"-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres.
Die im Behördenauftrag emsig Fiktionen scannenden jungen Damen huschen nun als Nebenfiguren durch Sven Pfizenmaiers neuen Roman "Schwätzer". Achtung, liebe Leser, sollen sie vermutlich signalisieren: In diesem Buch ist alles möglich! Zunächst lernen wir, in einem postpandemischen Sommer des Missvergnügens in Berlin-Neukölln, Meikel und Eddi kennen, ehedem befreundet und Partner im exzessiven Drogenkonsum, inzwischen cleane Einzelgänger mit Angst vor dem Rückfall. Selbsthilfegruppe, Suchtdruck, das alles kostet Kraft, und so kann es Meikel, den es schon aus der Bahn wirft, "wenn er seine Reflexion auf einem geparkten Wagen sieht", kaum brauchen, dass der als notorischer Schwätzer verschriene alte Kumpel plötzlich Hilfe suchend vor seiner Tür steht. Eddi droht Entmietung und Obdachlosigkeit, da eine dubiose Investment AG, die den Rentenfonds der Zahnärztekammer Mecklenburg-Vorpommern verwaltet, Sanierung und Umwandlung in Eigentumswohnungen betreibt. Ein Zahnarzt aus Usedom bietet Eddi Hilfe an, wenn der ihm einen Meteoriten besorgt: Himmelskörper gegen Wohnrecht, so der reichlich absurd anmutende Deal.
Die Meteoriten-Mission von Eddi und Meikel im Brandenburger Hinterland ist nur ein Handlungsstrang des Romans. Ein weiterer gruppiert sich um Farina und Heinrich, einen Schulfreund Meikels. Farina hat vor der Pandemie einen angesagten Elektro-Club, das "April", betrieben, das inzwischen leer steht; Heinrich, Selfmade-Geschäftsmann mit Migrationshintergrund, will den aufgelassenen Club in ein Fitnesscenter umwandeln. Da ist nur ein kleines Problem: Sowohl eine von Farinas WG-Mitbewohnerinnen als auch Heinrichs Assistent hat Suizid begangen - jeweils kurz nachdem sie im "April" waren. Gehen hier die Geister des Partyvolks um?
Das Sterben der Club-Kultur ist ein roter Faden in "Schwätzer", wobei Pfizenmaier nicht moralinsauer den Zeigefinger hebt: Im Zweifelsfall arbeiten die Feierbiester mit am eigenen Untergang. Als Farina das "April" im zweiten Pandemiejahr unter Auflagen wieder öffnen darf, beschließt der Club, "Betriebsfeiern zu hosten". Nun kommen sie alle: Jung von Matt, Daimler, die Telekom oder Edeka. "Wir dachten, wir könnten kurz gutes Geld verdienen und danach mit dem alten Programm weitermachen", erinnert sich Farina. Doch der Kapitalismus, der alte Schlawiner, lässt derlei nicht ungestraft.
Pfizenmaiers magischer Realismus wechselt scheinbar mühelos die sprachlichen Register: Klassisches, plotgetriebenes Erzählen mit sozialkritischen Einsprengseln führt uns etwa in Szenecafés, "wo man die Tagesangebote mit Herzchen verzierte, um zweistellige Beträge für ein belegtes Brot irgendwie lieb aussehen zu lassen". Daneben stehen surreale short cuts, in denen ein Mistkäfer in eine Berliner Hipsterbar hineinspazieren und einen Drink bestellen kann. Oder der Vollmond steckt im blauen wolkenlosen Himmel "wie ein Loch im Karton, durch das die Küken atmen können". Gern dürfen es auch slapstickartige Szenen sein wie jene Verfolgungsjagd in der Sonnenallee: Ein Mann mit Meteoriten unterm Arm - Eddi - wird von einem Zahnarzt verfolgt, "der mit der linken Hand einen Rollstuhl mitsamt zweitem Zahnarzt vor sich herpeitschte und mit der rechten einen laufenden Rosenbohrer dem Himmel entgegenstreckte". Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem dentalen Setting eine Zahnarztszene, die den Horror in John Schlesingers "Marathon Mann" persifliert; Christian Szell ist hier passenderweise eine Frau namens Dr. Schlimm.
Im zweiten Teil des Romans wechselt die Tonalität deutlich nach Moll. Ilja, der Ich-Erzähler aus dem Umfeld von Eddi, Meikel, Farina und Heinrich, der, getrieben von der Sehnsucht nach Nähe und Freundschaft, die wunderliche Meteoritenjagd durch Brandenburg mitmacht, spricht über sich und seine Abgründe. Es ist die Geschichte eines von Ängsten besetzten siebenjährigen Kindes, für das die Fernsehbilder der Loveparade einem Erweckungserlebnis gleichkommen. "Ich hatte verstanden, dass es da draußen eine Variante der Welt gab, die viel lauter war, als ich angenommen hatte, viel lebendiger, viel befreiter, und ich wusste, dass ich mit dieser Welt in irgendeiner Form zu tun haben wollte."
Iljas Geschichte dreht aber auch noch einmal das bislang negativ konnotierte Bild des "Schwätzers". Während Eddi aus Langeweile lügt, um persönliche Fehlschläge zu kaschieren, oder schlicht aus Gewohnheit, Heinrich von der Gamifizierung der Fitnessbranche faselt ("Nudging, Bruder") und Farina von den guten alten Zeiten, kann hemmungsloses Schwatzen auch eine Art geselligkeitsstiftendes Antidepressivum sein. Ein wenig mutet das an wie eine moderne Version von Tausendundeiner Nacht: Solange drauflosfabuliert wird, verlieren Einsamkeit, Sucht oder Suizid ein wenig von ihrem Schrecken. Fast wünscht man sich also, dass es Verbindungen gibt zwischen den Geistern des "April", den esoterischen Zahnärzten auf Usedom, dem Weltall, der Liebe, dem Tod. "Von irgendwo ging eine Wärme aus, und dort wollte ich unbedingt hin", sagt Ilja einmal, ein Kaputter unter Kaputten, aber nicht ohne Hoffnung. Sven Pfizenmaiers "Schwätzer" wiegt, so gesehen, locker ein ganzes Heizkraftwerk auf. NILS KAHLEFENDT
Sven Pfizenmaier: "Schwätzer". Roman.
Verlag Kein & Aber,
Zürich 2024. 285 S.,
geb.
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