Wir befinden uns im Jahre 1980 in der Neuen Vahr Süd, einem ganz und gar nicht pittoresken Neubauviertel im Osten von Bremen. Für Frank Lehmann, der gerade seine Lehre beendet hat, noch immer bei seinen Eltern wohnt und irgendwie vergessen hat, den Wehrdienst zu verweigern, wird es ein hartes halbes Jahr. Zwar gelingt ihm nach einem Streit der Auszug aus dem Elternhaus in eine chaotische Wohngemeinschaft, aber ein neues Zuhause hat er damit noch lange nicht gefunden, und die Neue Vahr Süd holt ihn immer wieder ein. Und während Frank - noch immer rätselnd, wie es so weit kommen konnte - in der Kaserne strammstehen, Hemden auf Din A4 falten und durchs Gelände robben muss, streiten seine Freunde für ihre Version der proletarischen Weltrevolution, gegen Militär und Aufrüstung und um die energische Sibille, ohne diese allerdings vorher nach ihrer Meinung gefragt zu haben. Hin- und hergerissen zwischen Auflehnung und Resignation kämpft Frank Lehmann hart am Abgrund und mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln für eine eigene, würdige Existenz zwischen zwei widersprüchlichen Welten.
Sven Regener ist ein komischer und zugleich beklemmender Roman gelungen, der uns über den Aufbruch seines Helden in eine verwirrende Zukunft die frühen achtziger Jahre von einer Seite nahebringt, die wir erfolgreich verdrängt zu haben glaubten.
Zwischen Drill und Anarchie
Herr Lehmann ist wieder da! - In Sven Regeners genialem zweiten Roman "Neue Vahr Süd" bekommt seine Kultfigur eine Jugend im Bremen der frühen 80er und zwar zwischen Bundeswehrdrill und Post-68er-Studentenleben.
Wieder glänzt Element-of-Crime-Sänger Regener durch ausgeklügelten Wortwitz, aberwitzige Dialoge und stilistischen Feinschliff, der sich unter einer scheinbar flapsigen Oberfläche verbirgt. Frank Lehmann ist mehr als ein sympathisch-kauziger Alltagsheld, er ist eine Reflektorfigur seiner Epoche, ein Charakter im Spannungsfeld der Zeitgeschichte. Bedeutsam aufgeladen und unbedeutend alltäglich zugleich. Irgendwie wie man selbst und irgendwie auch ganz anders.
Floß ohne Steuermann
Können Sie sich an Herrn Lehmann erinnern? Jenen erfolglosen Glückssucher und romantischen Verlierertypen, hauptberuflichen Bierzapfer und Kreuzberger Gelegenheitsphilosophen, der weder an der Sinnentleertheit seines Tuns noch am Hauch des Scheiterns litt, der ihn und seine Kumpels umgab? Wissen sie noch, wie er mit einer Handvoll Altrockern, Bohemiens und kauzigen Lebenskünstlern im Kreuzberger Bezirk SO36 von einer Kneipe zur anderen gezogen ist? Das war in Sven Regeners erstem Roman "Herr Lehmann" oder in der gleichnamigen Verfilmung von Leander Haußmann. Da war Herr Lehmann beinahe 30 und im Berlin der späten 80er.
Jetzt ist Herr Lehmann gerade mal 20 und im Bremen der frühen 80er. Jetzt, das heißt in Sven Regeners genialem zweiten Roman "Neue Vahr Süd", benannt nach einer Bremer Neubausiedlung. Mit diesem, den erfolgreichen Erstling in Stil und impliziten Anspruch übertreffenden Werk, setzt Element-of-Crime-Sänger Regener die von ihm geplante Lehmann-Trilogie fort. Und kehrt die Logik üblicher Entwicklungsliteratur um. Denn erst jetzt, im zweiten Teil, bekommt Herr Lehmann eine Jugend. Was hat ein Typ mit 20 gemacht, der selbst mit 30 den Rest des Lebens als etwas behandelt, das man am besten einfach so auf sich zukommen lässt?
Er hat zum Beispiel die Schule abgebrochen und eine Lehre als Speditionskaufmann gemacht. Er muss zur Bundeswehr gehen, weil er die Verweigerung vergessen hat. Er zieht bei seinen Eltern aus, weil sein Vater in seinem Jugendzimmer Fernseher reparieren will. Und bezieht in einer Chaos-WG einen Vier-Quadratmeter-Bretterverschlag, weil er zu faul ist, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Kurz: er lässt sich von den äußeren Umständen treiben wie ein Floß ohne Steuermann und paddelt erst dann los, wenn die Stromschnellen bedenklich nahe gekommen sind.
Ausgeklügelter Wortwitz
Frank Lehmann, den noch niemand "Herr Lehmann" nennt, lebt zwischen zwei Extremen: dem Drill der Bundeswehr und der Anarchie seiner neuen WG-Mitbewohner. Wochentags faltet er Hemden auf Din-A-4-Größe oder robbt in pflanzendekorierter Tarnkleidung durch Kornfelder, am Wochenende säuft und kifft er, bis er statt des ersehnten One-Night-Stands gemeinsam mit einer Partybekanntschaft über der Kloschüssel hängt. Genauso meisterhaft wie Regener aus der Sicht seines Helden den absurden Hierarchiekult und das täglich-sinnlose Einerlei der Bundeswehr beschreibt, erfasst er das aberwitzige Treiben der Studenten, Punks und Exgenossen, die in bierseliger Runde ihrer K-Gruppen-Zeit nachhängen: damals, als sie noch in kommunistischen Gruppierungen mit abenteuerlich klingenden Kürzeln wie SDAJ, KOB oder KJB organisiert waren ... In beiden Welten - der Bundeswehr und dem Post-68er-Studentenleben - fühlt sich Frank Lehmann nicht wirklich zu Hause. Beide Welten - Repräsentanzpole der Geschichte der Bundesrepublik - werden durch ihn für den Leser lebendig: Frank Lehmann als Reflektorfigur seiner Epoche, als Charakter im Spannungsfeld der Zeitgeschichte.
Wie Regeners Erstling lebt auch "Neue Vahr Süd" von den wunderbaren Dialogen, dem ausgeklügelten Wortwitz und dem stilistischen Schliff, der sich unter der scheinbar flapsigen Oberfläche unwichtiger Gedanken verbirgt. Selbstironie und satirische Effekte verdankt Regener der klugen, konsequent durchgezogenen Erzählhaltung: Obwohl strikt personal und deutlich in Lehmanns Innenwelt blickend, ist der Erzähler nicht identisch mit seiner Hauptfigur. So bekommen die endlos sprudelnden Denkkaskaden automatisch den Beigeschmack der Ironie, so entlarvt das permanente, zwischen Bandwurmsätze eingeschobene "dachte er" die Gefangenheit Lehmanns im eigenen Gedankenkosmos: " ... irgendetwas ist kaputt hier, dachte er, da muß man mal in Ruhe drüber nachdenken, obwohl, dachte er, vielleicht auch lieber nicht ... ".
Sympathischer Kauz
So herrlich sich das alles liest, so scheinbar mühelos sich Lehmann zugespitzten Situationen entzieht, er ist kein vorbildlicher Held: Er ist einer jener sympathisch-kauzigen Alltagstypen - irgendwie wie man selbst und irgendwie auch ganz anders. Wie er sich mit Problemen des tagtäglichen Lebens, mit den Winkelzügen der Bürokratie, mit den komplizierten Marotten seiner Freunde rumschlägt - man kennt es. Wie er Lösungen findet, sich aus Situationen hinauswindet, sich auf so verquere Weise selber treu bleibt - man wundert sich.
Die Welt, durch die Frank Lehmann zieht, ist nicht freundlicher als unsere, eher etwas düsterer, aber irgendwie macht "Neue Vahr Süd" trotzdem Mut. Denn es ist ein gemütlicher, warmherziger, vor allem aber lustiger Roman, in dem man so lange durch die Lehmannsche Gedankenmühle gekurbelt wird, bis man angesichts der Absurdität des Lebens laut auflachen muss.
© Markus Kuhn, www.titel-forum.de
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