Besprechung vom 10.06.2023
Die Bosheit hat noch Milchzähne
Sylvie Schenk hat mit "Maman" ein faszinierendes literarisches Porträt ihrer Mutter geschaffen
Wie kann es sein, dass diese deutsche Autorin immer noch als Geheimtipp gilt? Mit ihren Büchern "Schnell, dein Leben" (2016) und "Eine gewöhnliche Familie" (2018) hatte sich Sylvie Schenk, geboren 1944 im französischen Chambéry, zuletzt im autofiktionalen Genre als Pendant zu Annie Ernaux profiliert, ohne uns über ihren höchst individuellen Zugang im Zweifel zu lassen: fragmentarisch wie die Erinnerung, skeptisch gegen das eigene Ressentiment, zweifelnd an der eigenen Rolle im Familienspiel und am Schreibtisch, präzise, klug und voll Witz, hart und doch zart. Am Anfang von "Maman", der Geschichte ihrer Mutter, weiß die Erzählerin nicht, ob das, was sie schreibt, ein Roman sein wird, doch sie weiß: "Es wird ein approximativer Text." Aber weil Sylvie Schenk ihre Annäherung vollzieht, indem sie die Lücken der Überlieferung und des Gedächtnisses mittels Imagination und Einfühlung füllt, kommt eben doch ein Roman heraus.
"Sie war ein stummer Mensch mit blauen Augen und einem Verstand, der damit beschäftigt war, seine Mängel zu kaschieren." Ein solcher Satz über die eigene Mutter ist unerhört, mag die Ich-Erzählerin auch noch so glaubwürdig betonen, sie "habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt". Doch Sylvie Schenk hat sich nun einmal für Klartext entschieden, sie verzichtet auf den biographischen Weichzeichner, und "Geheimnis" ist ein Schlüsselwort des Romans: Dass die Herkunft der Renée Gagnieux im Dunkeln lag, auch für sie selbst, dass das Rätsel darum die Kindheit der fünf Geschwister verdüstert und "das Leben meiner Mutter ausgehöhlt hat, eine mittelalterliche Tropffolter", setzt für die Tochter Recherche und Selbstbefragung in Gang: "Mamans Leben und mein Leben sind miteinander verflochten wie zwei unterschiedlich gefärbte Wollfäden im schlecht gestrickten Pullover einer Penelope, die auf sich selbst wartet."
Renée ist diese Penelope, die auf sich selbst wartet, lebenslang und vergeblich. Sie strickt mit mechanischer Hingabe, liest, wenn überhaupt, Trivialliteratur, macht sich nichts aus Wandern und Schifahren, ihr Mann, kein Odysseus, sondern Zahnarzt aus gutem Hause, unternimmt seine Touren allein. Das Paar ist von Lyon in die Berge gezogen, nach Gap in Hautes-Alpes. Die Geschwister erinnern sich später an einen ganz mit sich selbst beschäftigten Vater und an eine lieblose und gleichgültige Mutter, die "keine Moral" hatte, aber zwei eherne Prinzipien der Erziehung: nur ja nicht zu spät zum Essen kommen und nur ja kein uneheliches Kind kriegen! Das entspricht durchaus dem Comme-il-faut der bürgerlichen Familie, doch bei Renée steckt mehr dahinter: Sie ist ein Adoptivkind, was ihre dünkelhaften Schwiegereltern sie zeit ihres Lebens spüren lassen. Und sie kennt nicht einmal den Namen ihrer Mutter, geschweige denn den ihres Vaters.
Da setzt die Erzählerin mit ihrer (sub-)proletarischen Genealogie der alleinerziehenden Mütter an, mit Renées Großmutter, der arbeitslosen Seidenweberin aus Lyon, die ihre uneheliche Tochter Cécile durchbringen muss und irgendwann auf dem Strich landet wie viele und später auch Cécile, die bei der Geburt ihrer Tochter Renée am 29. Dezember 1916 stirbt. Das Mädchen durchläuft die traurige Karriere einer Waise, kommt zu hartherzigen Bauern in Pflege, ehe sie mit sechs das große Los zieht: eine liebevolle und geduldige Adoptivmutter, einen freundlichen Adoptivvater. Renées Urvertrauen in die Welt ist freilich erschüttert, die Schule überfordert sie, für ihre Mitschüler ist sie die Idiotin: "Sie lachen, die Bosheit hat noch Milchzähne." Schenk schildert ein diffuses Fremdheitsgefühl, das Bewusstsein einer untilgbaren fundamentalen Minderwertigkeit, aus dem heraus die Ehe mit einem einsilbigen, etwas gehemmten Zahnarzt als Ausweg erscheint.
Tatsächlich gerät Renée in die freudlose Fron ehelicher Pflichten: Die Tochter erkennt in der erzwungenen sexuellen Gemeinschaft mit dem Vater einen Hauptgrund für das Unglück der Mutter. Erst mit der Geburt der Nachzüglerin Lisa spielt Renée sich frei und kann sich diesem Kind ganz anders zuwenden. Was sie über ihrer Herkunft weiß, bleibt unklar: "Sah sie sich selbst als Schandfleck, als Sprössling einer Hure?"
Da ist der unzulänglich verborgene Hass der Mutter gegen den Vater, aber auch "ein tiefes, andauerndes Grollen". In kurzen Kapiteln mit prägnanten Überschriften ("Die Unglückliche", "Merci, Madame", "Das Mädchen ohne Talente") zeichnet die Tochter sie scharfsichtig als ein "angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht. Danach wurde zwar eine Notreparatur vorgenommen. Das Wesentliche hatte man aber nicht wiederherstellen können."
Stets ist die Erzählerin nahe dran an ihren Figuren, ohne sich selbst als - imaginierte oder teilnehmende - Beobachterin aus der Szenerie auszusparen. So betont sie das Gemachte, Kalkulierte, Subjektive ihrer Geschichte. Ihre Schwestern, denen sie Teile zu lesen gibt, werfen ihr vor, die Mutter bloß als Opfer zu sehen. So bemüht sie sich darum, auch das Positive wahrzunehmen, eine Leerstelle zu füllen, sie zitiert Racine: "'Jede Erfindung besteht darin, aus nichts etwas zu machen.' Will ich das? Ich schöpfe doch ständig aus dem Nichts. Ich mache ihr einen luftigen Sarg aus Worten." Letztlich entscheidet Sylvie Schenk sich gegen das Luftige und für das Handfeste, ganz ohne Rührseligkeit, dafür umso rührender, sie widmet sich der nur oberflächlich honetten Damenrunde der Mutter, ihrem ominösen Fehltritt, den man Fauxpas nennt, dem späten Aufeinanderzugehen während ihrer Krebserkrankung. Zuletzt ist das Buch für sie "meine erste und letzte Umarmung. Schreiben. Streicheln. Festhalten."
Sylvie Schenk erzählt in diesem Porträt nicht nur eindringlich von bourgeoiser Verlogenheit und Entmündigung, sondern auch von französischem Klassendenken und Gesinnungskollaboration im Zweiten Weltkrieg, vom komplizenhaften Schweigen der Frauen und vom Schweigen der Sieger, die sich mit ihrer Scham hinter dem Nimbus der Résistance versteckten. Und nicht zuletzt vom Eigensinn einer jungen Schriftstellerin in kunstfeindlicher Umgebung. DANIELA STRIGL
Sylvie Schenk: "Maman". Roman.
Hanser Verlag,
München 2023. 173 S., geb.
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