»Ein einmaliges Zeugnis eines Jahrhunderts, seiner Größe, seines Größenwahns, seiner Niedrigkeit. « Fritz J. Raddatz
Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Gottfried Benn, Pablo Picasso, Max Ernst und André Gide. Mit Hellsicht und scharfem Sinn beobachtete Zeitläufte und politische Katastrophen. Der Kampf um Selbständigkeit und die Suche nach geistiger Orientierung: All das bietet das Tagebuch, das Thea Sternheim über einen Zeitraum von 65 Jahren geführt hat. Es ist das Dokument eines wachen und freien Geistes, für den Ästhetik, Moral und Politik stets eine Einheit bildeten. Thomas Ehrsam hat aus der Fülle der Aufzeichnungen eine Auswahl aus ihrer Pariser Zeit zusammengestellt. Sie zeigt Thea Sternheim in der Emigration, der drückenden Vorkriegszeit, als Häftling im Lager Gurs, unter deutscher Besatzung und schließlich in den auch in Frankreich schwierigen Jahren nach dem Krieg. Thea Sternheim, die unbestechliche Chronistin des 20. Jahrhunderts, wird damit einem breiten Publikum zugänglich gemacht.
Besprechung vom 30.11.2024
Das Laue war ihre Sache nicht
Mit den Avantgarden wohlvertraut: Eine Auswahl aus dem Tagebuch Thea Sternheims in den Pariser Jahren.
Von Dorothea Zwirner
Von Dorothea Zwirner
Introvertiert und doch wahrnehmend; glühend von Gefühl u. doch nüchtern; dämmernd von Glauben und Inbrunst und doch wach; contemplativ und doch voller Einfälle; die Substanz feminin und die Methode der Darstellung hart und sicher." Die dialektische Eloge, die Thea Sternheim als Mensch wie als Schriftstellerin charakterisiert, stammt von keinem Geringeren als Gottfried Benn. Seit 1917 verband Thea Sternheim eine lebenslange Freundschaft und Korrespondenz mit dem Dichterfreund und Arzt ihres Mannes, der ihr 1952 zur Publikation ihres einzigen Buchs "Sackgassen" verhalf. Doch nicht nur dieser Lebensroman, an dem sie über dreißig Jahre gearbeitet hat, wurde zu einem veritablen Lebenswerk, sondern vor allem das Tagebuch, das sie von 1905 bis kurz vor ihrem Tod 1971 fast täglich führte.
Nachdem dieses "einmalige Zeugnis eines Jahrhunderts, seiner Größe, seines Größenwahns, seiner Niedrigkeiten" (Fritz J. Raddatz) 2002 in einer hervorragend kommentierten fünfbändigen Edition erschienen ist, hat der Mitherausgeber Thomas Ehrsam nun ein Konzentrat zusammengestellt, das die Pariser Jahre 1932 bis 1949 einer deutschen Emigrantin miterleben lässt. Angefangen von ihren alltäglichen und familiären Sorgen bis zu ihren Kommentaren über Kunst, Literatur, Religion und Politik sind ihre Einträge nicht nur von großer Glaubwürdigkeit und Aussagekraft, sondern entfalten mindestens dieselbe Sogkraft wie eine Serie. Eingebettet in einen kurzen Abriss der ersten Lebenshälfte und der letzten Lebensjahre, beginnt die sorgfältig kommentierte Auswahl mit Thea Sternheims Emigration, in die sie bereits ein Jahr vor Hitlers Machtübernahme ging, ohne politisch oder rassisch verfolgt zu sein, aus Abscheu vor dem erstarkenden Nationalsozialismus.
Bis zu diesem gravierenden Einschnitt hatte die im wohlhabenden Fabrikantenmilieu ihres katholischen Elternhauses aufgewachsene Thea Sternheim, geborene Bauer, bereits ein bewegtes Leben als zweifach geschiedene Mutter dreier Kinder hinter sich. An wechselnden Wohnorten zwischen den rheinischen Heimatstädten Köln und Düsseldorf, den Theatermetropolen München und Berlin, den ländlichen Domizilen im belgischen La Hulpe bei Brüssel, im schweizerischen Uttwil am Bodensee und im deutschen Waldhof bei Dresden nahm sie aktiv teil am Aufbruch der Moderne: als Mitarbeiterin, Muse und Mäzenin ihres zweiten Mannes Carl Sternheim, als Sammlerin avantgardistischer Kunst von Van Gogh bis Picasso, als Amateurfotografin vieler berühmter Zeitgenossen, aber vor allem als hellwache und scharfzüngige Chronistin ihrer Epoche. Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs erwachte ihr politisches Bewusstsein, das sie zur überzeugten Pazifistin und Europäerin werden ließ.
Der dichte Spannungsbogen der Pariser Jahre endet sinnvollerweise nicht erst 1963 mit ihrem Umzug zu ihrer ältesten Tochter Agnes nach Basel, sondern bereits 1949 mit der Wiederannäherung an Benn, dem sie 1933 die Freundschaft wegen seines Eintretens für das Dritte Reich gekündigt hatte. Wie nur wenige Emigranten fand Thea Sternheim in ihrer Wahlheimat Anschluss an den Kreis französischer Intellektueller um André Gide, aber auch Julien Green, Picasso und Matisse zählten ebenso zu ihrem Freundkreis wie die Emigranten Max Ernst, Joseph Roth, Annette Kolb oder die Fotografin Frieda Riess - um nur einige von mehr als sechshundert Namensregistereinträgen zu nennen. Als "ewige Kupplerin" (André Gide) war sie beim Internationalen Schriftstellerkongress 1935 vergeblich bemüht, eine persönliche Verbindung zwischen den beiden von ihr hochverehrten Schriftstellern Heinrich Mann und André Gide im Café Les Deux Magots herzustellen.
Mit Entsetzen kommentiert sie den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland wie in Frankreich, erlebt zum zweiten Mal einen von Deutschland ausgehenden Weltkrieg auf fremdem Territorium und wird vorübergehend im berüchtigten Lager Gurs interniert. Die schwierigen Lebensbedingungen unter deutscher Besatzung zwingen sie, sich von ihrem geliebten Matisse-Stillleben zu trennen, das zu ihrem großen Trost in den Besitz von Picasso gelangt. Hinzu kommt die ewige Sorge um die zwei jüngeren Kinder, Mopsa und Klaus, die beide, von Drogen abhängig, vor ihr sterben werden. Aber zuvor muss die Mutter noch erleben, wie ihre Tochter wegen ihres Engagements für die Résistance nach Ravensbrück deportiert wird. Bestens informiert über die Verhältnisse in Deutschland, weiß sie bereits vor der Wannseekonferenz vom monströsen Plan zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas. Auch nach der Befreiung von Paris und der Rückkehr ihrer Tochter findet Thea Sternheim nur mühsam zurück in den Alltag der Nachkriegszeit.
Im Nachwort zeichnet Thomas Ehrsam das prägnante Charakterporträt einer unvoreingenommenen und unbestechlichen Frau, die trotz aller persönlichen und politischen Katastrophen voll Vitalität, religiöser Begabung und Bereitschaft zum Glück war, "begeisterungsfähig und erschütterbar". Pointiert arbeitet er ihre undogmatische Religiosität heraus, die sich mit ihrer "Lust am Schöpferischen" zu einer Art Kunstreligion steigerte; ihren schonungslosen und nüchternen Blick auf die Wirklichkeit, der jede Form von Verschleierung oder Selbstbetrug schnell entlarvte; ihre aus der chronischen Untreue Sternheims erwachsene Abscheu vor der als "Virilismus" bezeichneten toxischen Männlichkeit, die sie im Alter die Nähe zu homosexuellen jüngeren Männer suchen ließ; ihre "Jagd nach dem Exquisiten", die einem untrüglichen Qualitätsbewusstsein entsprang; ihren moralischen Anspruch zur Stellungnahme, dem sie "die immer wieder übelmachende Wirkung des Lauen" entgegensetzte.
So entfaltet sich im Ausschnitt eine Lebensgeschichte, die exzeptionell und exemplarisch zugleich erscheint - exzeptionell in der moralischen Gradlinigkeit, ästhetischen Souveränität und politischen Hellsichtigkeit, exemplarisch im weiblichen Selbstverständnis, das zwischen "Anarchie und Frommsein", Selbstzweifeln und Sinnsuche, Disziplin und Demut bis heute fasziniert.
Thea Sternheim: "Die Pariser Jahre". Aus den Tagebüchern 1932 -1949.
Herausgegeben von Thomas Ehrsam. Aufbau Verlag, Berlin 2024. 444 S., geb.
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