Besprechung vom 18.12.2024
Und wenn der Vater stirbt?
Thomas Korsgaards Roman "Hof"
Der dänische Schriftsteller Thomas Korsgaard stieß auf große Resonanz, als er 2017 im Alter von 21 Jahren von einer Jugend in prekären Verhältnissen erzählte, und auf diesen ersten Roman mit dem Originaltitel "Falls ein Mensch vorbeikommen sollte" folgten zwei weitere, mit denen die Geschichte zum Abschluss gelangte.
"Tue-Trilogie" wird diese Geschichte nach dem Vornamen des Protagonisten genannt. Sie hat sich in Dänemark glänzend verkauft, sorgte für Schlagzeilen, weil Korsgaard Teile des Geschehens nach eigenen Erlebnissen modellierte, und außerdem erhielt der dritte Band den dänischen Buchhändlerpreis "De Gyldne Laurbær", sodass der junge Kanon Verlag in Berlin ("Oh Boy") "das Wunderkind der dänischen Literatur" im Programm zu haben zu meint. Wenn Justus Carl und Kerstin Schöps nun den ersten Band in deutscher Übersetzung vorlegen, will sich die umwerfende Wirkung allerdings noch nicht völlig entfalten, jedenfalls drängt sich die hochtrabende Etikettierung nicht auf.
Sicher bringt der Autor in "Hof" eingängige Miniaturen zustande, er schreibt klar und berührend und besitzt die Gabe, die skizzierte Tristesse mit etwas Tragikomik zu kontern. Richtig zusammenschmelzen aber wollen die 53 durchnummerierten reflektionsarmen Kapitel nicht. Die Coming-of-Age-Geschichte kommt über die Exposition kaum hinaus.
Möglicherweise gibt sich das, wenn der Ich-Erzähler in den Folgebänden heranreift. In ihnen wird sich die Handlung von der norddänischen Provinz in die Metropole Kopenhagen verlagern - frei nach Lou Reed und John Cale: "There is only one good thing about a small town. You know that you want to get out."
"Hof" spielt durchweg in Nørre Ørum bei Skive, das ist nicht einmal "Smalltown" und liegt nahe der Gegend, die der dänische Literaturnobelpreisträger Johannes Jensen in seinen wenig nostalgischen "Himmerlandsgeschichten" beschrieb. Der Ich-Erzähler ist zu Beginn des Buchs erst zwölf. Er lebt auf einem Bauernhof, der sich vor allem durch einen "Haufen mit toten Tieren" auszeichnet. Die Eltern sind hoch verschuldet und lieblos miteinander im Umgang. Bildungsferne Leute, muss man auch sagen. Gleich zu Beginn bringt die Mutter eine Totgeburt zur Welt, verliert durch einen Unfall ihren Job in der Fabrik, geht es mit dem Betrieb des Vaters noch weiter abwärts. Er versetzt seinen Goldzahn und beginnt in den Nächten, Kupferkabel zu klauen.
Es ist ein Dänemark fern des Hygge-Hochglanzes. Lakonisch bis in ekelerregende Momente geschildert von Tue, der sich schämt, wenn er mit dem alten Transporter zur Schule gefahren wird, Second-Hand-Klamotten anziehen muss oder Klassenkameraden nach Hause einlädt.
Abgesehen von den Momenten, in dem ihm seine Großmutter robuste Wärme vermittelt, hat Tue selbst in der Familie das Gefühl, ein einsamer Außenseiter zu sein. Doch was kann er schon tun? Er ist noch nicht erwachsen und bleibt an den stinkenden Hof, die depressive Mutter und vor allem an den Vater gebunden. Ihn erhebt er in einem kurzen Prolog dann zum eigentlichen Thema des Buches: "Ich stellte mir vor, was wohl passieren würde, wenn mein Vater morgen sterben sollte. Als wäre nur der Tod in der Lage, alles zu verändern."
Ein zu Gewaltausbrüchen neigender Vater, zerstörerisch schon in der Sprache und seinem Alltagsverhalten: "Meine Mutter kam in Unterhosen die Treppe hochgerannt. Ihr Fett schwabbelte bei jedem Schritt (...). Mein Vater lachte und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf sie."
Auswege aus dieser Kindheitshölle zeichnen sich erst durch Mike ab, mit dem Tue homosexuelle Erfahrungen sammelt, durch die Freundschaft zur abenteuerlustigen Iben, die sich als aufrichtiger Kumpel erweist, und den bevorstehenden Wechsel zum Gymnasium. Dass die Geschichte langfristig auf den Versuch eines Schriftstellerdaseins hinausläuft, weil negative Erfahrungen immerhin für so etwas gut sind ("Ab und zu ging ich in die Bibliothek und klaute Bücher"), wird hingegen erst erkennbar sein, wenn im kommenden Jahr die Teile zwei und drei nachgereicht werden. In Dänemark laufen parallel die Vorbereitungen zu einer Verfilmung. MATTHIAS HANNEMANN
Thomas Korsgaard: "Hof". Die Tue-Trilogie, Band 1.
Aus dem Dänischen von Justus Carl und Kerstin Schöps. Kanon Verlag, Berlin 2024. 288 S., geb.
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