Als Goethe im Jahr 1832 starb, hatten die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die Industrialisierung Europa von Grund auf verändert. Thomas Steinfeld erzählt Goethe neu - als einen Menschen, in dessen Leben und Werk sich die Umbrüche jener Zeit auf einzigartige Weise spiegeln: beginnend mit der Kindheit in Frankfurt und den Studienjahren in Leipzig und Straßburg, über die Phase des poetischen Aufbruchs bis hin zum «Faust», zur «Farbenlehre» und zum «West-östlichen Divan». Auch das Herzogtum Sachsen-Weimar rückt in ein neues Licht, als eine intellektuelle Landschaft von großer Bedeutung für die Philosophie, die Medizin oder die Physik.
Goethe tritt in den vertrauten Rollen des Dichters, Theatermachers oder Reisenden auf, aber auch in den weniger bekannten des Politikers, Kriegsbeobachters und Naturforschers. Steinfeld zeichnet das Bild eines Intellektuellen, der nichts schreiben konnte, ohne zugleich das Gegenteil zu denken, eines Konservativen, der sich stets auf der Höhe der Zeit befand - und eines klugen, neugierigen, aber auch einsamen Menschen, der einige der schönsten und tiefsten Werke schrieb, die es in der deutschen Literatur gibt.
Besprechung vom 16.03.2024
Goethe in Bewegung
Thomas Steinfeld zeigt den Dichter als den Geist, der stets bejaht. Und dann verneint, der Kunst zuliebe.
Von Florian Balke
Auf Seite 666 spricht Mephisto. "Ich schaffe, was ihr wollt, und schaffe mehr", ruft er der am Kaiserhof versammelten Menge rund um die Papiergeldhandlung des zweiten Teils der Tragödie zu. Aber auch den bald darauf auftretenden Knaben Wagenlenker lässt Thomas Steinfeld zu Wort kommen. "Bin die Verschwendung", sagt er: "Bin die Poesie." Da ist Steinfeld schon im Endspurt einer Goethe-Biographie, die den Leser wie der kluge Teufel und auch die Kunst mit immer mehr verführt - mehr Stoff, mehr Einsicht.
Dabei arbeitet Steinfeld genau in diesem Moment trickreich daran, den Dichter als Mephisto zu zeigen. Sein Goethe hintergeht die Fülle bewusst und stellt dem Sinn die Subversion zur Seite. "Faust II" habe Goethe nicht geschrieben, um Kunst und Wissen des Abendlands zu versammeln: "Es ist, als sollte alles, was je getan, gedacht oder gedichtet worden sei, einmal noch aufleuchten, bevor es dann im Nichts verschwindet."
Diese Denk- und Lebensfigur spürt Steinfeld bei Goethe schon früh auf: "Als er einen Roman der Liebe schrieb, entpuppte sich das schönste aller Gefühle als höchst fragwürdiges Unternehmen. Als er einen Bildungsroman verfasste, schilderte er zugleich den Totalitarismus des dazugehörigen Programms. Als er in den Adel aufgestiegen war, machte er eine Putzmacherin zu seiner Lebensgefährtin." Der Dichter als freier, widersprüchlicher, beweglicher Geist: "Darum soll es in dieser Biographie gehen."
Pointiert und paradoxal ist das geschrieben, kenntnisreich und überaus lesbar. Die mehr als 1600 Quellennachweise bemerkt der Leser nur, wenn er will. Wie immer ließe sich alles auch ganz anders drehen. Steinfelds Goethe fährt 1778 nach Berlin und sieht in der Zusammenfassung des Biographen "eine Exerzierhalle, eine Gewehrfabrik, ein Waffenlager und eine Parade". Frau von Stein schreibe Goethe, er sitze nunmehr an der "Quelle des Krieges". Steinfeld schließt: "Es scheint ihm unheimlich geworden zu sein unter so vielen Soldaten." Unerwähnt bleibt, dass Goethe auch das Opernhaus sah, zweimal Chodowiecki besuchte und brieflich bemerkte, es sei ein "schön Gefühl", sich der Kriegsquelle genaht zu haben. Aber auch auf 784 Seiten ist nicht Platz für jede Nuance. Zudem bringt die von Goethes Berliner Gesprächspartnern bemerkte Schweigsamkeit Steinfeld auf eine gelungene Formulierung zu Goethes "Techniken des Selbstschutzes". Er habe sich zurückgezogen, sobald er "Gefährdetes oder Gefährdendes" erkannt habe.
"Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit" heißt das Buch im Untertitel. Schwer mache Goethe es seinen Biographen, schreibt Steinfeld, "weil er so vieles gleichzeitig tat, und alles mit gleicher Intensität". Als Porträtmaler gelingt ihm das Kunststück, den Virtuosen der Gleichzeitigkeit in der Bewegung zu erhaschen und ziemlich komplett aufs Bild zu bekommen. "Goethe hielt die Übergänge kurz", heißt es zu den Gesprächen mit französischen Emigranten in Weimar, mit denen der Dichter sich über die Verhüttung von Eisen durch Steinkohlenkoks und die Insektenmetamorphose unterhielt. Kurz hält sich auch der Biograph: "Man tauschte Billetts, Bücher, Raupen, Puppen."
Als späte Blüte bürgerlicher Goethe-Verehrung ist das Buch sich seiner selbst höchst bewusst. Die autobiographische Arbeit an "Dichtung und Wahrheit" habe Goethe abgebrochen. "Das Ganze darzustellen, vermittelt durch das Leben eines einzelnen Menschen, hatte sich als nicht zu verwirklichendes Vorhaben herausgestellt", schreibt Steinfeld. Und macht sich unverdrossen an das, was sein Gegenstand liegen ließ - das Weiterschreiben Goethes als "Dichtung seiner selbst", einer Dichtung, "die nie abgeschlossen, sondern - in Form von Biographien vor allem - von der Nachwelt fortgesetzt wurde, bis auf den heutigen Tag". Von Steinfelds Goethe will man mehr.
Thomas Steinfeld: "Goethe". Porträt eines Lebens.
Rowohlt Berlin, Berlin 2024. 784 S., Abb., geb.
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