Im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, UNESCO Weltkulturerbe, liegt zwischen Bäumen versteckt auf einer kleinen, unzugänglichen Insel im Beckerbruch ein versteinertes Wesen. Es ist eine der wenigen existierenden Kopien der antiken Skulptur des Hermaphroditen. Kaum von den Besuchern wahrgenommen, ist er seit mehr als zwei Jahrhunderten dem Wirken der Jahreszeiten ausgesetzt. Dabei käme diesem in sich weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale vereinenden Wesen gerade an dieser Stelle eine exponierte Bedeutung zu. Den kleinen Musterstaat der Aufklärung, wie ihn der Fürst Franz in beispielloser Weise schuf, besuchten einst die begeisterten Dichter und Philosophen jener Zeit. Die Faszination dieser gestalteten Landschaft als Utopie ist bis heute ungebrochen. Nur der Hermaphrodit ist vergessen. Dabei reichen gerade die ihn betreffenden Themenkomplexe Androgynität, Gender Studies, Queer-Theorie, Geschlechteridentität, sexuelle Orientierung, Körperinszenierung etc. unmittelbar in aktuelle Diskurse. Seit dem späten 18. Jahrhundert liegt das Zwitterwesen dort. Hatte sich Prinz Johann Georg von Anhalt-Dessau, der Bruder des Fürsten, hier sein Refugium neben den Tagesgeschäften gestaltet? Warum platzierte er genau dort diese künstlerisch gestaltete Ausnahme von der Regel? Warum ist dieses hinreißende plastische Bildwerk so vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt? Warum hat er in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus - einer Zeit der Umbrüche, blutigen Revolutionen und neuen Orientierungen - die Skulptur vor den zahlreich flanierenden Besuchern des fortschrittlichen Fürstentums Anhalt-Dessau verborgen? Dr. Thomas Weiß, Kulturhistoriker und langjähriger Direktor der Dessau-Wörlitzer Anlagen, geht in einem essayistischen Text diesen historischen Fragen und Bezügen nach. Der Hermaphrodit im Beckerbruch lohnt unbedingt eine Neuentdeckung, zu der auch stimmungsvolle Fotografien der eindrucksvollen Skulptur am sehr besonderen Ort einladen, nebst historischen Abbildungen und literarischen Schlüsseltexten.