Besprechung vom 01.06.2019
Der Einzige und sein Königtum
Wie der Absolutismus zur Ich-AG wurde: Tim Blanning erzählt die Lebensgeschichte Friedrichs des Großen in erfrischend nüchternem Ton.
Sieben Jahre liegen die Feierlichkeiten zum dreihundertsten Geburtstag Friedrichs des Großen zurück, aber es fühlt sich an, als wären es zwanzig. Dasselbe gilt für die Debatten um die historische Bedeutung des Preußenkönigs: Sie sind selbst historisch geworden. Der Alte Fritz regt niemanden mehr auf, sein Charakterbild hat sich verfestigt und schwankt nicht mehr in den Wechselfällen der Geschichte. Wenn ein wichtiger deutscher Verlag in dieser Lage eine neue Friedrich-Biographie veröffentlicht, muss er viel Vertrauen in ihren Autor haben. Im Fall von Tim Blanning ist das Vertrauen mehr als gerechtfertigt. Sein Buch ist die zeitgemäße Lebensbeschreibung des Monarchen, mit der hierzulande keiner mehr gerechnet hat.
In England ist das Werk des britischen Historikers bereits 2015 erschienen. Blanning, seit zehn Jahren in Cambridge emeritiert, hatte Gelegenheit, die vorbereitenden Tagungen der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten zur großen Jubiläumsausstellung von 2012 zu besuchen, und er bezieht deren Ergebnisse in seine Darstellung ein. Noch gründlicher und größtenteils zustimmend setzt er sich mit Jürgen Luh auseinander, der in seiner Studie "Der Große" die Schattenseiten des ruhmsüchtigen Königs beleuchtet hat - Herzenskälte, Misanthropie, Falschheit, Willkür und Rechthaberei, um nur die wichtigsten zu nennen. Blannings Buch ist also nichts für Friedrich-Verehrer alter Schule oder neupreußischer Provenienz. Um so dringender ist es all jenen zu empfehlen, die sich ein zeitgemäßes Bild des Siegers von Leuthen und Erbauers von Sanssouci machen möchten.
Für die bundesdeutsche Geschichtsschreibung über Friedrich den Großen sind die Biographien von Theodor Schieder (erschienen 1983) und Johannes Kunisch (2004) grundlegend. Während Schieder vor allem die inneren Spannungen des friderizianischen "Königtums der Widersprüche" betonte, zeichnete Kunisch den Lebensweg Friedrichs als Bildungsroman, der von der frühen Gier nach Ruhm und Erfolg zu einer Ethik des Dienens in den späten Regierungsjahren führte. In einem Punkt allerdings waren sich die beiden so verschieden argumentierenden Historiker einig: Sie vermieden jede tiefere Spekulation über die sexuelle Orientierung des Preußenkönigs. Diesen Konsens kündigt Blanning auf.
Für ihn ist Friedrich der Große ein Homosexueller ohne Wenn und Aber, auch wenn er zu der Frage, inwieweit der Monarch seine Veranlagung auch körperlich auslebte, kaum Greifbares beizutragen hat. Die augenzwinkernde Bemerkung, Friedrich und Liebling Fredersdorf hätten "regelmäßig an Problemen im Analbereich" gelitten, gehört zu den wenigen Stellen, an denen sein historisches Stilgefühl den Autor im Stich lässt.
Aber für Blanning ist es auch nicht entscheidend, ob der König die Lebensform, die er für sich gewählt hatte, im Bett praktizierte oder nicht. Die Homosexualität ist in seiner Lesart nur eines von mehreren Verhaltensmustern, mit denen der junge Friedrich auf den Versuch seines Vaters reagierte, ihn als Individuum zu zerstören. Ein weiteres Muster war die Liebe zur Kunst und zur Philosophie, ein drittes die monarchische Prachtentfaltung in repräsentativen Großbauten, ein viertes, nach dem Regierungsantritt, der Krieg. Dennoch hat keiner dieser Hammerschläge den Sohn aus den väterlichen Ketten befreit. Noch im Sommer 1760, auf dem Höhepunkt des Siebenjährigen Krieges, erzählte Friedrich seinem Vorleser de Catt von einem Traum, in dem er Friedrich Wilhelm I. im Jenseits gegenübergetreten sei und ihn gefragt habe, ob er es nicht "gut gemacht" habe.
Als alternder Alleinherrscher schikanierte er seine Entourage und seinen Nachfolger dann ebenso gründlich, wie er selbst schikaniert worden war. Nicht zufällig trägt Blannings Kapitel über die Jugend des Königs die Überschrift "Wie Friedrich gebrochen wurde". Als gebrochene Persönlichkeit hatte Friedrich keine andere Wahl, als sein Trauma auf immer neue Weisen auszuleben, sei es, indem er die Armee, das Lieblingsspielzeug seines Vaters, rücksichtslos auf dem Schlachtfeld einsetzte, sei es, indem er dessen Tabakskollegium mit seiner Tafelrunde in Sanssouci übertrumpfte. Die Verstümmelung im Genitalbereich, die Friedrichs letzter Leibarzt Zimmermann an dem Greis festzustellen glaubte, mag ein Märchen sein, die verstümmelte Psyche ist es nicht.
Tim Blanning, anders gesagt, bringt die scheinbar gegensätzlichen Perspektiven von Schieder und Kunisch zusammen, indem er das Handeln des Königs aus den Erfahrungen des Kronprinzen ableitet. Der tägliche Zwang, sich zu verstellen, um zu überleben, hatte Friedrich so tief geprägt, dass er auch als Regent nie restlos in seiner Rolle aufging. Er war, mit Ernst Kantorowicz gesprochen, weder mit seinem individuellen Körper gänzlich eins noch mit dem symbolischen Körper des Königs. Um so leidenschaftlicher arbeitete er an seiner Selbstdarstellung für die Mit- und Nachwelt. Friedrich der Große ist der erste europäische Herrscher, der zugleich sein eigener Historiker und Chefpropagandist war. Seine Geschichtswerke, Manifeste und politischen Testamente haben sein Bild vier Generationen lang geprägt, bevor im späten neunzehnten Jahrhundert eine quellenkritische Neubetrachtung des friderizianischen Preußen begann.
Derselbe monomanische Herrschaftsstil prägt die Rechts-, Kultur- und Wirtschaftspolitik des Königs. Ein großer Vorzug von Blannings Buch liegt darin, dass er die Widersprüche, die Friedrichs Regierungszeit durchziehen, weder rhetorisch glattzubügeln noch pathetisch zu überhöhen versucht, sondern das Für und Wider des fritzischen Absolutismus nüchtern abwägt. Friedrich verachtete das deutsche Theater und die deutschsprachige Oper, aber er machte Berlin zum Kulturstandort, an dem eine "kräftige Opposition" (Achim von Arnim) gegen sein veraltetes Kunstideal heranwuchs. Sein Verhältnis zu den Juden war von Ranküne und fiskalischer Ausbeutung bestimmt, aber seine Politik religiöser Toleranz bereitete dennoch ihre endgültige Emanzipation vor. Nur sein Merkantilismus scheiterte auf ganzer Linie; am erfolgreichsten war der König als Wirtschaftspolitiker, wenn er, wie bei der aufstrebenden Baumwollindustrie, einfach gar nichts tat.
Die Schlachten und Feldzüge des roi connétable nehmen bei Blanning relativ wenig Raum ein, und das tut gut. Zu lange hat Friedrichs Kriegsruhm seine eigentliche historische Bedeutung überschattet. Nicht als Heereslenker, sondern als monarchischer Solitär hat er sich Europa am tiefsten eingeprägt. Indem er es zur Ich-AG machte, führte Friedrich das absolutistische Königtum ad absurdum und übersetzte es zugleich in die Moderne.
Die deutsche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts handelt von immer neuen Anläufen, einen populären Herrscher vom Schlage Friedrichs zu finden, und noch die Nationalsozialisten haben sich an seinem Mythos bedient. Dabei endete das reale Dasein des Königs in Einsamkeit und Verknöcherung; sein Musenhof in Sanssouci war "ein Kloster mit Friedrich als Abt" (Blanning). Aber das Schauspiel seiner Volkstümlichkeit, das er bis zuletzt aufführte, war so glaubwürdig, dass es jede zeitgenössische Kritik überstrahlte. Als Königsdarsteller hat Friedrich die Könige seiner Zeit besiegt. Diese Bilanz eines barocken Herrscherlebens hat noch kein Friedrich-Biograph so knapp und schlüssig gezogen wie Tim Blanning.
ANDREAS KILB
Tim Blanning:
"Friedrich der Große.
König von Preußen".
Aus dem Englischen von Andreas Nohl.
C. H. Beck Verlag, München 2019. 718 S., geb.
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