Schon in jungen Jahren sehnte sich Titiou Lecoq nach einer Zeit, in der Schriftsteller noch Superstars waren. An einem emotionalen Tiefpunkt angelangt, hört sie im Radio von dem Balzac-Haus in Passy und beschließt kurzerhand, sich auf die Spuren ihrer literarischen Jugendliebe zu begeben. Doch das Haus ist überraschend leer, die Einsamkeit des legendären Autors spürbar. Statt einen Psychologen aufzusuchen, entscheidet sich Lecoq, eine Biografie Balzacs zu schreiben und der Frage nachzugehen, warum der große Schriftsteller sich in dieser kleinen Wohnung verkrochen hat und die Besucher dort heute nur noch eine hässliche Vase vorfinden. Sie entlarvt den Mythos des Literaturgenies und zeigt uns einen Mann, der schrieb, um zu Geld und Ruhm zu gelangen, der sich nach Liebe sehnte, aber sein Glück nur erträumen konnte, der seine unvorteilhaften Körperproportionen durch extravagante Kleidung zu kaschieren suchte, der ein Faible für Luxus hatte und dafür ein finanzielles Fiasko nach dem anderen in Kauf nahm. Kurzum: einen Mann aus Fleisch und Blut.
Mit schwungvoller Feder fegt Titiou Lecoq in Balzac und ich den Staub von dem literarischen Denkmal Balzac und führt uns seine ungeheuerliche Modernität vor Augen: sein Engagement für die Frauen, seinen Unternehmergeist, seine Verirrungen in einem System, in dem Geld eine notwendige Voraussetzung für Glück zu sein scheint.
Besprechung vom 12.10.2024
Die schöne Kunst, kein Geld zu haben
Ruhmsüchtig und dem Luxus verfallen: Titiou Lecoq beschreibt Honoré de Balzac als Genie der Verschwendung.
Von Hubert Spiegel
Von Hubert Spiegel
Honoré de Balzac war für die Journalistin und Buchautorin Titiou Lecoq eine Jugendliebe. Das Buch, das sie dieser Liebe widmet, ist eine Biographie und ein maßvolles Memoir, das mit dem Wörtchen "Ich" beginnt. Ein Zufall ist das nicht: Auf den folgenden zweihundert Seiten muss dieses Ich den Leser und vielleicht auch sich selbst immer mal wieder daran erinnern, dass es auch noch da ist, droht es doch zu verschwinden neben einem Giganten, der in nahezu jeder Hinsicht außergewöhnlich war und kaum zu überbieten ist: ein literarisches Genie und ein großer Liebender, zudem die "menschgewordene Hartnäckigkeit", der größte Pechvogel der Literaturgeschichte und der "König der Reinfälle".
Denn was immer Balzac außerhalb seiner literarischen Werke auch anpackt, es geht schief. Malheur folgt auf Malheur, Schnapsidee reiht sich an Schnapsidee, Vermögen werden erworben, Vermögen werden verschleudert. Balzac führt ein gehetztes Leben, stets auf der Flucht vor seinen Gläubigern und auf verworrenen Pfaden unterwegs zu seinem großen Ziel: ein für alle Mal so wohlhabend zu werden, dass er in Ruhe, Frieden und großem Luxus seine Bücher schreiben kann. Dazu wird es nie kommen. Balzac, das macht Titiou Lecoq hingebungsvoll und detailreich deutlich, hat nie das Leben geführt, das er führen wollte. Aber er hat die Bücher geschrieben, die er schreiben wollte. Wie passt das zusammen?
Balzacs "Menschliche Kömodie" umfasst 88 Titel und bereitet 2504 Figuren eine Bühne. Wie war es möglich, einem Leben in ständiger Bedrängnis und voller Misserfolge ein solches literarisches Werk abzutrotzen? Und inwieweit waren Bedrängnis und Misserfolge die Bedingungen, die zur Entstehung dieses Werks nötig waren? Hat Balzac, wie der deutsche Untertitel von Lecoqs Buch suggeriert, sein Leben gemeistert, in dem er auf grandiose Weise immer wieder scheiterte?
Von Thomas Bernhard weiß man, dass er Häuser kaufte, um sich zum Schreiben zu zwingen, und schrieb, um sich Häuser kaufen zu können. Balzac entwickelte ein auf ähnliche Weise in sich geschlossenes System, das aber ungleich kleinteiliger war. Wie Oscar Wilde hatte er im Grunde einen einfachen Geschmack: Er wollte von allem immer nur das Beste, das Teuerste. Egal ob es sich um Seidenhemden, Taschentücher, Teppiche, Möbelstücke, Kandelaber, Marmorsimse oder den Griff einer Toilettenspülung handelte, Balzac war bereit, nahezu jeden Preis zu bezahlen, wenn ihm etwas gefiel. Weil er kein Geld hatte, machte er Schulden, was ihm leichtfiel, weil er berühmt war. Mühelos entwickelte er die abstrusesten Argumentationsketten: Wer so hoch verschuldet war wie er, war geradezu verpflichtet, den Eindruck großen Reichtums erwecken, weil einzig der Anschein großen Reichtums Aussicht auf weitere Kredite gewährte. Ein Schneeballsystem, das seinen Urheber unter sich begraben musste.
Balzac mietete Wohnungen unter falschem Namen an und vereinbarte Losungsworte mit Freunden, die ihn besuchen wollten. Wer die Parole nicht kannte, konnte nur ein Gläubiger sein und wurde nicht vorgelassen. Titiou Lecoq hat unzählige solcher skurril wirkender Details zusammengetragen, aus Biographien, Briefen, Erinnerungen von Zeitgenossen. Man liest diese Passagen amüsiert, mitleidig, entsetzt, kopfschüttelnd, fassungslos und nachdenklich. Balzac erscheint als liebevoll, gutherzig und großzügig, und doch hat er jeden in seiner Nähe ausgepresst wie eine Zitrone: seine Freunde, seine Mutter, vor allem seine Geliebten. Schuldgefühle scheinen ihn dabei nur selten geplagt zu haben, aber er wusste sie durchaus zu vermitteln und gefiel sich in der Rolle des Opfers. Honoré de Balzac: ein dicker kleiner Mann von unvorteilhaftem Äußeren, der beim Reden Speichel versprühte, weil ihm schon früh die meisten seiner Vorderzähne ausgefallen waren. Aber niemand konnte ihm widerstehen.
Titiou Lecoq betrachtet Balzac als Zeitgenossen der heutigen Gesellschaft und als "Bruder". Was die schwesterlichen Gefühle der Schriftstellerin erweckt, sind seine Geldgier, sein unbedingtes Streben nach Erfolg und Anerkennung, nach Luxus und Glück: "Als erster Romanschriftsteller hatte er begriffen, dass er in einer Epoche lebte, in der man nicht über das Leben sprechen konnte, ohne auch über Geld zu sprechen." So beschrieb er den Liebhaber, der sich ängstlich fragte, ob sein Portemonnaie den Ansprüchen der neuen Geliebten wohl gewachsen sei, er erkundete die Strömungslehren des Geldes und entdeckte das Finanzwesen als literarisches Motiv. Zugleich riss er die sorgfältig bewachte Mauer zwischen den hehren Gefilden der Kunst und der schnöden Welt des Geldes nieder, was ihm Spott und erbitterte Feindschaften eintrug.
Balzac schreibt über Frauen wie niemand vor ihm, er schreibt für Frauen, und er wird von ihnen gelesen. In einer Gesellschaft, die Ehefrauen wegen eines Seitensprungs in "Besserungsanstalten" einsperrte, aber nichts dagegen hatte, wenn ein Ehemann seine ertappte Gemahlin kurzerhand umbrachte, vertrat Balzac radikal andere Ansichten, die er 1829 in seiner "Physiologie der Ehe" darlegte: "Die Fehltritte der Frauen sind allesamt Anklagen gegen die Selbstsucht, Unbedarftheit und Nutzlosigkeit der Ehemänner."
Balzac ist furchtlos. Balzac ist größenwahnsinnig. Balzac ist wie ein Kind, das heute Lokomotivführer werden will und morgen Admiral. Balzac will Druckereibesitzer werden, Verleger und Ananaszüchter. Balzac will in die Eisenbahn investieren und in verlassene Silberminen auf Sardinien. Balzac türmt Niederlage auf Niederlage, doch er ist nicht aufzuhalten. Im März 1836 skizziert er seine künftige Karriere als Politiker: "Ich will die Macht in Frankreich, und ich werde sie haben." Aber Balzac, der Träumer, Spinner und Phantast, ist auch ein Realist, der einsieht, dass er gezwungen ist, seine "Wünsche niederzuschreiben, anstatt sie zu erfüllen". Und so wird nicht Balzac Minister, sondern Rastignac, eine der prägnantesten Figuren der "Menschlichen Komödie".
"Balzac und ich" ist eine Biographie, die entschlossen Partei ergreift für ihren Helden, weil er die Macht des Geldes über jene, die es nicht besitzen, nicht zu akzeptieren bereit war. Eine Haltung, der Balzac sein Leben lang treu blieb und für die ihm kein Preis zu hoch war. Mit seinen eigenen Worten: "Alles, was man macht, muss man richtig machen, selbst eine Torheit."
Titiou Lecoq: "Balzac und ich". Wie man sein Leben meistert, indem man
grandios scheitert.
Aus dem Französischen
von Nicola Denis.
Friedenauer Presse,
Berlin 2024.
208 S., br.
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