Das Selbstbildnis ist also viel mehr als die Wiedergabe einer Physiognomie und womöglich einer inneren Bewegtheit, es ist ein lebhaft ausgestatteter Ideenträger. Im Selbstbildnis bekennt der Dargestellte, der Künstler, direkt oder indirekt sein Verständnis der Kunst, darüber hinaus aber offenbart es auch oft seine Auffassung von der Gesellschaft oder von der Welt (S. 47).
Uwe Schneede, ehemaliger Direktor der Hamburger Kunsthalle, dessen Buch über Paula Modersohn-Becker ich bereits mit großer Begeisterung las, befasst sich in seinem neuen Werk eben genau damit: welche Bedeutung haben Selbstbildnisse? Für den Künstler oder die Künstlerin und natürlich auch für die Betrachter. Davon abgesehen aber auch, wie viel bedeuten Selbstbildnisse für andere Künstler?
Das Spektrum der besprochenen Bildnisse reicht von Van Gogh bis Marina Abramovi, beleuchtet das Thema unter verschiedenen Überschriften. Dabei geht es auch immer um den Entstehungsprozess des jeweiligen Bildes, um die Frage, wie realistisch sich der Künstler selbst darstellte und wenn nicht, warum nicht. Dass die jeweils aktuelle Stimmung, die Verfassung, in der sich die Künstler befinden, wenn sie zum Pinsel greifen, sich auf die Arbeit auswirken, ist eine Binsenweisheit, darum aber nicht weniger wahr. So zeigt sich eben in den Selbstbildnissen Van Goghs die Wandlung seiner Seele überdeutlich, die Stimmung, in die er immer tiefer geriet.
Andere Maler wiederum nutzten die Selbstporträts zur Übung, probierten neue Techniken und Ideen aus oder ganz simpel übten die Porträtmalerei, die sie zum Geldverdienen brauchten.
Auch in diesem Buch ist unter den vielen anderen bekannten und weniger bekannten Namen wieder Paula Modersohn-Becker vertreten. Ihr bekanntestes Selbstbildnis ist sicher das Aktbild von ihr als Schwangere. Sie nennt diese Bild Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag, gemalt, als sie selbst gar nicht schwanger war. Was bedeutet diese Bild daher? Zeigt es ihre Wünsche, ihre Träume?
Ein sehr interessantes Buch über einen Bereich der Malerei der Moderne. Ein Buch, das man immer mal wieder gerne zur Hand nimmt, um darin zu blättern oder etwas nachzulesen. Empfehlenswert.
Uwe M. Schneede - Ich : Selbstbildnisse in der Moderne
C.H. Beck, September 2022
Gebundene Ausgabe, 240 Seiten, 29,95 €