Besprechung vom 04.04.2024
Roadtrip mit menschlichen Bestien
Die Sowjetunion in Stalins Schatten: Vladimir Vertlibs familienbiographischer Roman "Die Heimreise" über eine Jüdin im Sozialismus
1956 im Nirgendwo der kasachischen Steppe. Beim Arbeitsdienst erreicht eine junge Frau der Hilferuf ihrer Mutter. Vladimir Vertlib schickt die seiner Mutter nachempfundene Lina durch viertausend Kilometer sowjetischen Wahnsinn, der viel über das heutige Russland erzählt.
"Vater schwer krank. Komm rasch! Rückreise von Hochschule bewilligt." Es ist September, und die Steppe um die Sowchose, wo Lina mit ihren Kommilitoninnen "freiwillige" Aufbauhilfe leistet, versinkt im Schlamm. Bis zum nächsten Bahnhof sind es mehr als hundert Kilometer ohne Straßen. Das Schädlingsbekämpfungsflugzeug, das sie mitnehmen soll, wird sie knapp verpassen. Die Hinfahrt in einem Viehwaggon dauerte neun Tag und kostete mehrere Menschenleben. Sich als einundzwanzigjährige Frau allein auf den Weg zu machen ist purer Wahnsinn. Doch Lina will ihn um alles in der Welt noch einmal sehen: Chaim Abramowitsch, den sie schon lange nicht mehr Vater nennt.
Reisende in der Literatur sind meist Männer auf dem Weg zu sich, seit Goethe Wilhelm Meister aufbrechen ließ. Dass auch Lina bald auf eine Theatertruppe trifft, ist nur eine der zahlreichen literarischen Reminiszenzen. Vertlib erschreibt sich eine weibliche Psyche und hält zugleich sensibel Distanz. Denn Frauen reisen anders - brutal anders. Der Traktorfahrer, der Lina vom Flugplatz zum Bahnhof bringt, macht mitten in der Steppe halt und will erst weiterfahren, wenn sie mit ihm geschlafen hat. Als sie sich weigert, setzt er sie an einem toten Bahngleis ab. Lina hat die Belagerung Leningrads überstanden, doch wie lange reicht eine Flasche Wasser? Ein Wunder - das sich später als Atomunfall entpuppt - schickt nach einem Tag den Geisterzug mit der Theatertruppe vorbei.
Kreuz und quer geht die Reise, immer in Angst, der Zielort könnte eine Sackgasse sein. Fast alle Menschen ringsum sind Deportierte, Elternlose aus von stalinistischer Faust zerschlagenen Familien, missbrauchte Kinder, Denunzierte, nach Jahren in Straflagern auf der Heimreise, ohne zu wissen, was "Zuhause" ist. Alle haben verinnerlicht, dass ein falsches Wort Deportation und Tod bedeutet. Doch Stalin ist drei Jahre tot, und plötzlich passieren seltsame Dinge. Als die Mitreisende "Rauschan" wegen ihres unähnlichen Passbildes von KGB-Männern verhaftet werden soll, hört Lina plötzlich "eine junge, weibliche Stimme, die laut, deutlich und mit großer Überzeugungskraft zu sprechen begann". Lina, die Jüdin mit der Überlebensstrategie des Unsichtbarseins, liest KGB-Männern die Leviten und ist erleichtert, als hätte sie "etwas Dickes, Klebriges, Schmutziges abgestreift". Wieder geschieht ein Wunder: Erst ein Vorarbeiter, dann eine Schauspielerin, schließlich ein ganzes Schiff begehren auf. Das System mag bestialisch sein, aber Menschen haben die Wahl, ob sie selbst Bestien werden wollen. Mit Bestien kennt Lina sich aus, seit sie auf Rat ihres kriegsversehrten Cousins den gefürchteten Kettenhund einer Nachbarin umarmte.
Wie nebenher verdichten sich biographische Erzählungen zum umfassenden Bild vor allem der Frauen im Sowjetreich. Vermeintliche Typen entfalten individuelle Charakterzüge, wie die maskuline, mit einem riesigen Plüschhund reisende Bauarbeiterin, die ihr "Vögelchen" liebt, weil er weder sie noch die Kinder schlägt und nur an Wochenenden besoffen ist. An der Seite von Rauschan alias Greta - die tatsächlich mit dem Pass einer Toten unterwegs ist - wird die Reise zur Flucht. An jedem Ort treffen sie auf die gleiche Misere. Irrwitziger Höhepunkt dieses ebenso komischen wie poetischen Romans ist die mit einer politischen Rede eingeweihte tschechische Bahnhofstoilette, die vom Mob überrannt und geplündert nach wenigen Stunden aussieht wie überall im Land. Der "Abort" ist Metapher für die Misere des sozialistischen Traums. Doch es ist nicht der Sozialismus - an den Lina stärker glaubt als an Gott -, es ist das in ihm überdauernde Patriarchat mit seinem Kitt aus Antisemitismus und Misogynie, der die Systemgewinnler zusammenschweißt. Albtraumartig fleischgeworden in jenem Mönch, der im dunklen Allerheiligsten des Maria-Himmelfahrts-Klosters die damals sechzehnjährige Lina missbrauchte.
Die Heimreise wird vorangetrieben von der Empörung über die Verlogenheit der sowjetischen Welt, die Frauen und Juden Gleichberechtigung im Land herkunfts- und geschlechtsloser Sowjetmenschen versprach - und bis heute Gewalt und Missbrauch liefert. Linas Eltern hatten dem Versprechen vertraut. Der junge Chaim "Chaimele" Abramowitsch stand für den sowjetischen Juden, in den sich Rosa Borisowna verliebte, weil er aus dem "Schtetl" kam und doch ein Proletarier mit schwieligen Händen war, auch wenn er bald ins Büro wechselte, weil er ordentlich schreiben konnte. Der Deportation entkamen sie nur durch Stalins Tod.
Als Frau und Jüdin ist Lina das doppelte "Andere". Das Stereotyp will, dass die Juden im Westen ihr Leben verloren und im Osten ihre Seele. Tatsächlich spielt Religion kaum eine Rolle in Linas Familie, Judentum aber sehr wohl. Doch was ist sein Kern jenseits von Antisemitismus und jüdischer Literatur? Es ist just die Schicksalsfreundschaft zu Greta, dem Kind der Vergewaltigung ihrer deportierten deutschen Mutter durch einen Kolchosen-Kommandeur, die der kühl analysierenden Studentin der Mathematik hilft, im beschwörungsformelhaften Kreisen um die "Vatersnamen" der Eltern und der Erinnerung an die Geschichten ihres schweigsam-liebevollen Vaters den Zugang zu sich, ihren Emotionen und ihrem Jüdischsein zu finden. TINA HARTMANN
Vladimir Vertlib: "Die Heimreise". Roman.
Residenz Verlag, Wien 2024.
352 S., geb.
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