Was bedeutet es, wenn die Eltern alt werden? Bestsellerautor Volker Kitz erzählt in seinem literarischen Essay die Geschichte seines Vaters und erkundet an ihr exemplarisch, wie sich familiäre Verantwortung verschiebt, wenn Eltern alt werden. Sein Buch berührt die Gefühle und Fragen einer ganzen Generation.
»Bleibt bei mir«, bittet der Vater seine zwei Söhne, als die Erinnerung ihn verlässt. Bis dahin war Erinnerung für Volker Kitz kein Thema. Sie funktionierte, der Vater funktionierte, die Familie funktionierte. Doch eines Tages verunglückt die Mutter, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Erst unmerklich, dann immer deutlicher, verliert der älter werdende Vater die Orientierung in seiner Welt. Volker Kitz begleitet ihn, von den übersehenen Anfängen bis zu dem Tag, an dem der Vater vergisst, wie man schluckt. Durch Hoffnung und Hilflosigkeit, bis zum Abschied, als der Vater - trotz allem plötzlich - stirbt.
In diesem persönlichen literarischen Essay erkundet Volker Kitz eine Zeit der Ungeahntheiten, in der sich Verantwortung verschiebt, und dringt mit zärtlicher Wucht zu Empfindungen und Fragen vor, die eine ganze Generation betreffen.
»Was für ein Buch, das so viele Menschen betrifft! Aufwühlend und tröstlich zugleich, eine packende Erzählung nicht nur über den Tod, sondern auch über das Leben. « Kristof Magnusson
»Eine Schule der Empathie und des Verstehens - ein unendlich schönes Buch. « Maria-Christina Piwowarski
»Es ist lange her, dass mich ein Buch so berührt hat. Manchmal musste ich mitten im Satz innehalten, weil so viele eigene Bilder und Erinnerungen in mir hochkamen, dann wieder konnte ich es nicht weglegen. « Sarah Stricker
Besprechung vom 20.08.2024
Wo findet man als Angehöriger Trost und Halt?
Volker Kitz schildert am Beispiel seines Vaters, wie sich das Leben verändert, wenn die Eltern alt werden
Unterhalten sich Menschen miteinander, die, sagen wir, zwischen Ende 20 und Mitte 40 sind, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie über ihre Kinder reden. Vielleicht sind ihre Mienen dann sorgenvoll, wahrscheinlicher aber ist es, diese Menschen während ihres Gesprächs lächeln zu sehen, ab und an dürften sie auch herzhaft lachen. Wie die Zukunft aussieht, das wissen sie nicht, doch das junge Leben stimmt sie zuversichtlich.
Unterhalten sich Menschen miteinander, die, sagen wir, zwischen Ende 40 und Anfang 60 sind, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie über ihre Eltern reden. Sorgenvolle Mienen überwiegen, das seltene Lachen klingt bitter. Altes Leben ist oft beschwerlich, für die Alten selbst wie für jene, die ihre Kinder sind und es bleiben - auch wenn ihre Rollen dem gängigen Kindheitsbild kaum mehr entsprechen. Wer ist noch unbeschwert, der Verantwortung trägt, wer noch unschuldig, der ständig Entscheidungen treffen muss? Wer blickt noch zuversichtlich in die Zukunft?
Nicht jeder hat Kinder, Eltern aber haben, zunächst einmal, alle. Dass Eltern alt werden, abbauen, krank werden, ist eine Generationserfahrung, welche - sosehr sich die Geschichten gleichen - die meisten mehr oder weniger unvorbereitet trifft. Vom "Gefühl, dass wir etwas verschleppt hatten", schreibt auch Volker Kitz, Jahrgang 1975, in seinem Buch "Alte Eltern". Der Titel signalisiert eine Universalität, die Kitz weder einlösen will noch kann. Zum einen hat er kein breit recherchiertes Sachbuch verfasst, sondern einen "persönlichen literarischen Essay". Zum anderen ist seine Familiengeschichte zu speziell. Seiner Mutter war es nicht vergönnt, alt zu werden, sie starb mit 66 Jahren bei einem Autounfall. Kitz' Vater wiederum wurde nicht einfach nur alt, er wurde - auch wenn das eine mit dem anderen oft einhergeht - dement. Dennoch dürften sich in seinen Schilderungen viele wiederfinden, und zwar nicht nur, weil in Deutschland - wie er im Buch erwähnt - täglich 1200 neue Demenzfälle bekannt werden.
Was die vermeintliche Rollenumkehr von Kindern und pflegebedürftigen Eltern betrifft, so zitiert Kitz seinen Schriftstellerkollegen Arno Geiger, der in "Der alte König in seinem Exil" von der Demenzerkrankung seines Vaters erzählt hat. Geiger hält dieses Bild für beschönigend, da die Entwicklung des Kindes nach vorn gerichtet sei: "Altwerden, zumal Demenz, ist eine Entwicklung zurück, zu weniger, ins Verschwinden." Aufhalten lässt sich das nicht, man kann es nur begleiten. Und, zum Beispiel durch Bücher wie die von Geiger und nun von Kitz, versuchen, dem Verschwinden etwas entgegenzusetzen.
Schon weil es für die Betroffenen eine weitere Versehrung bedeuten könnte, ihr Leid in einem gewissen Grad öffentlich auszubreiten, will ein solches Projekt wohlüberlegt sein. Die Frage, ob das Buch eine gute Idee sei, hat Volker Kitz nicht nur sich selbst, sondern auch - in einem von dessen wachen Momenten - seinem Vater gestellt. "Das interessiert die Leute bestimmt", hat dieser geantwortet, jedenfalls, solange es "nicht zu persönlich" sei. "Alte Eltern" ist sehr persönlich, aber nicht indiskret, sondern als Porträt des verschwindenden Vaters voller Zuneigung und auch Erstaunen über diesen verschlossenen Menschen, den die Erkrankung phasenweise zugänglicher macht. Erst nach dessen Tod wird Kitz auf eine Sammlung von Notizen stoßen, in denen der Vater seine Einsamkeit nach dem Verlust der Ehefrau in Worte fasste.
Wo findet man als Angehöriger Trost und Halt? Kitz wählt den ihm nächstliegenden Weg: "Literatur befragen". Und zwar vor allem danach, was ihr zur Erinnerung einfällt, die er als "Notfallsammelpunkt" der Menschen beschreibt. Neben Arno Geiger antworten ihm Annie Ernaux, Husserl, Heidegger und viele weitere; auch die Proust'schen Madeleines finden selbstverständlich Erwähnung. Angesichts der diesem unnütz gewordenen Notizzettel des Vaters muss Kitz "an die Formulierung denken, die der junge Hegel für das Gedächtnis gebraucht hatte: ,Beinhaus der Wirklichkeiten'".
Die Lektüre liefert Kitz nicht nur Antworten und neue Fragen, sie dürfte ihm auch dazu verholfen haben, das private Schicksal aus intellektueller Distanz betrachten zu können. Und so überzeugend das Resultat ausfällt, man fragt sich doch irgendwann, wieso Kitz seine Leser nicht ebenso intensiv wie an seinem Austausch mit Büchern am Austausch mit anderen Menschen teilhaben lässt, mit Menschen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, allen voran der eigene Bruder. Ob da die Mahnung des Vaters eine Rolle gespielt hat, das Werk möge nicht zu persönlich ausfallen?
Sehr nahe kommt man der Familie trotzdem, viele Passagen sind erschütternd. Wenn etwa der Vater "in seinem Haus und seiner Angst gefangen" ist, weil er keinen Türgriff mehr zu nutzen weiß. Wenn nach und nach alles, was das Zimmer im Pflegeheim behaglich machen soll, zur Gefahr wird und entfernt werden muss, von der Stolperfalle Teppich bis zur Topfpflanze, "weil er die Erde aß". Wenn die Hoffnung auf Besserung der Hoffnung "auf den alten Stand der Verschlechterung" weicht, wenn den Besucher "alle paar Tage ein anderer, nicht mehr vorstellbarer Vater" empfängt. Und wenn Kitz Situationen schildert, in denen er die Geduld verliert und den alten Mann anschreit; ein Kontrollverlust, der längst nicht nur den Angehörigen von Demenzkranken droht, sondern allen, die sich um Familienmitglieder kümmern, welche zusehends hilf- und antriebsloser werden.
"Alte Eltern" ist, auch da mag der Titel manche täuschen, kein Ratgeber, doch ein Buch, das uns Antworten abverlangt: Was würde ich tun? Was tue ich? Was habe ich getan? Dass "Alte Eltern" trotzdem auch Hoffnung gibt, liegt nicht nur an den bei allem Schmerz rührenden Momenten mit seinem Vater, die Volker Kitz beschreibt, sondern auch an der Erkenntnis, die das Buch pflegenden Angehörigen verschafft: Sie mögen sich oft genug allein fühlen. Aber sie sind es nicht. JÖRG THOMANN
Volker Kitz: "Alte Eltern". Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024. 240 S., geb.,
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