Besprechung vom 13.03.2022
Groß, zärtlich und brutal
Ein junger Mann aus der Provinz zieht durch das Kiew der Zwanzigerjahre - über Walerjan Pidmohylnyjs alten, aber sehr aktuellen Roman "Die Stadt"
Während die pathetische, kluge und übernächtigte Violetta sich in Kiew auf den Tod einstellt, lese ich in Berlin einen Roman. Nein, pathetisch ist meine Freundin Violetta seit Tagen, seit dem Angriffskrieg nicht mehr, und das Wort "Tod" spricht sie nicht aus. Sie sagt nur: "Ich versuche heute, alles zu erledigen. Du weißt ja, vielleicht werd ich es morgen nicht mehr können."
Darauf kann man - kann ich in dieser Sicherheit Berlins - natürlich nicht antworten. Sage deshalb: Kennst du Walerjan Pidmohylnyj? Sein Buch lese ich gerade.
"Na klar! Und weil wir über Bücher reden: Ich schicke dir mein Manuskript, es ist noch nicht ganz fertig, aber es muss veröffentlicht werden, wenn mir etwas passiert. Und jetzt heul bloß nicht rum."
Was soll ich tun?
"Lies einfach Pidmohylnyj weiter! Und sag mir später, wie es ist!"
Walerjan Pidmohylnyj also. Und sein Roman "Die Stadt", der in Kiew vor einhundert Jahren spielt und jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Pidmohylnyj, Schriftsteller und Redakteur einer Kiewer Kulturzeitschrift, schrieb dieses Buch auf Ukrainisch. Das war 1927. Danach durfte er nicht mehr lange schreiben, ab 1930 kaum noch publizieren. Und 1935 wurde er wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Er musste auf die Solowezki-Inseln, wo Lenins Terror, der später Stalins Großer Terror wurde, seinen Anfang nahm. Denn dieses Lager auf den Inseln war das Vorbild des Systems Gulag. Dort wurde Pidmohylnyj zwei Jahre nach seinem Urteil hingerichtet. Er war erst 36 Jahre alt.
"Die Stadt" beginnt auf einem Schiff. Der hübsche Dorfjunge Stepan träumt da von Kiew, vom Studium, das ihm bevorsteht, und von der großen, weiten Welt. An Bord ist auch Nadijka, die Stepan für die Schönste hält. Und ja, dieses Verlieben auf einem Schiff lässt einen gleich an Flaubert denken, an den Anfang von "L'Éducation sentimentale", an Frédéric Moreau, der sich auf einem Seine-Dampfer in Madame Arnoux verliebt, und auch an Flauberts Sprache - sie ist so musikalisch wie die von Pidmohylnyj. Oder andersrum.
Als Stepan in Kiew ankommt, zieht er zuerst in eine Scheune ein, die der Kaufmannsfamilie Hnidy. Stepan melkt Kühe und holt Wasser, im Winter hackt er Holz - das ist der Deal, denn er zahlt keine Miete.
"Die Stadt" wirkt anfangs wie ein zärtlicher Roman über die erste, große Liebe, die Liebe Stepans zu Nadijka. Doch dann verwandelt sich der Dorfjunge - mit jedem Tag in dieser Stadt ein bisschen mehr. Er will jetzt ein Schriftsteller werden, geht mit seiner Short Story "Das Rasiermesser" zum wichtigsten Kritiker in Kiew, zu Mychajlo Lichterschein. Er sucht im "Informationsbüro" nach ihm, dort ist eine Sekretärin: "Sie führte Stepan durch einen dunklen Gang, und er zitterte dabei wie ein junger Dieb, der sich zum ersten Mal nachts in eine fremde Wohnung stiehlt." Da Stepan von sich selbst, von seinem Talent so überzeugt ist, atmet er zwar Angst aus, aber Hoffnung ein, die Lichterschein brutal vernichtet, denn er hat keine Zeit für Amateure. Auf einmal glänzt das Böse in dem jungen Stepan auf: Er zerfetzt zuerst seine Short Story im Park und geht zu Nadijka, um auch sie zu zerfetzen: Er vergewaltigt sie. Nadijka heult, und Stepan schreit: "Das ist deine Schuld!"
Obwohl der Held zum Monster wird, will man ihm trotzdem folgen - durch diese Stadt, durch diese Sprache. Denn jede Zigarette, die Stepan raucht, und jede Straße, die er kreuzt, ist - so, wie es da steht - große Literatur. Und dann auch noch diese Beschreibungen der Frauen, die er nach Nadijka so trifft! Sein Blick auf sie ist mal brutal und mal ironisch. So wie zum Beispiel in der Affäre Stepans mit der alten Hausherrin Musinka Hnidy: "Es war eine besondere, seltsame und doch genussvolle Küchenromanze zwischen einem jungen Mann und einer verdorbenen Matrone, ein halbsentimentaler, ja banaler Liebesroman, der durch die ewige Nacht und das Ticktack einer billigen Wanduhr geheiligt ist", schreibt Pidmohylnyj - und man weiß nicht, ob das zu hart ist oder schön.
Langsam steigt Stepan auf. Er wird Dozent für Ukrainisch. Denn der Roman von Pidmohylnyj spielt in den Zwanzigern in Kiew, in jener kurzen Zeit, in der die Sowjetmacht das ukrainische Bildungswesen noch gefördert hat - klar, kalkuliert, weil sie annimmt, dass die Berücksichtigung der nationalen Interessen es möglich machen würde, die angeblich allheilige sowjetische Gesellschaftsordnung in den verschiedensten Regionen des Bolschewikireiches zu verwurzeln. Doch weder Pidmohylnyj noch sein Stepan wissen damals, dass Stalin bald diese Idee vernichten und jeden Nationalkommunisten in der Ukraine töten wird, ja auch Walerjan Pidmohylnyj - und mindestens drei Millionen anderer Ukrainer im künstlich und brutal geschaffenen Holodomor, der Hungersnot, die Stalin aus seiner stalinhaften schizophrenen Angst heraus anordnet und so einen Massenmord begeht.
"Die Russen morden immer noch, aber sie haben schon verloren!", sagt Violetta am Montagabend auf FaceTime.
Bitte, lauf nicht durch Kiew, sage ich.
"Ich bleibe vorsichtig! Aber ich bleibe hier, weil wir die wunderschönsten Männer haben. Sie werden mich verteidigen", sagt sie und spricht danach über den "Bär". Er ist seit Jahren unser Freund, ein Kommandant, ein Fallschirmjäger. Und dann macht Violetta einen Witz darüber, dass unser "Bär" - "wer, bitte, sonst?" - jeden Russen aus der Ukraine schon vertreiben wird. Wir lachen. Reden über andere Männer, über schöne, starke Männer. Wie früher. Wie Frauen in Frauengesprächen sprechen. Denn auch im Krieg gibt es Hormone.
Und voller Hormone ist auch Stepan, der durch das Kiew dieses vergangenen Jahrhunderts zieht. Er wechselt seine Affären, wechselt seine Unterkünfte, zieht immer dichter in das Zentrum Kiews. Das Leben dieses Mannes, der ständig auf der Suche nach Sex, Ruhm und Glück ist - es ist ein Leben, das man sich jetzt für jeden Ukrainer und jede Ukrainerin nur wünscht, ein hoffnungsvolles, hoffnungsloses, ohne Krieg.
Stepan muss nur mit seinen Träumen kämpfen, er will noch immer ein Schriftsteller werden, lernt andere Kritiker und Dichter kennen. Und es läuft besser als mit Lichterschein. Seine Erzählungen werden veröffentlicht. Und Stepans Weg zur Literatur lässt einen noch mal an die Romane der Franzosen denken. Zum Beispiel an Balzac, an die "Verlorenen Illusionen". Denn wie Balzacs Lucien hört Pidmohylnyjs Stepan von großen und von kleinen Großstadtsnobs, dass er alles Provinzielle ablegen solle, sich eine neue Kleidung zulegen sollte. Und das tut er.
Stepans Auftritte in den Literatenkreisen sind so brillant beschrieben, dass sie bis heute gültig sind - selbst für die deutschen Literatenkreise. "Das literarische Leben beginnt, wenn sich eine ausreichende Menge Menschen zusammenfindet, die imstande ist, ununterbrochen über Literatur zu sprechen. Dabei dreht sich die endlose Schwätzerei eigentlich nicht so sehr um Literatur (...) und ebenso wenig ist das Ziel des Gequatsches eine Diskussion über erhabene Vorbilder (...), sondern es widmet sich Banalitäten wie dem schriftstellerischen Alltag oder handwerklichen Fragen, kurz und gut: langweilig und monoton", schreibt Pidmohylnyj, und das wirkt ziemlich wie von heute, oder?
"Nein", sagt Violetta jetzt ins iPhone, "sorry, hab keine Lust, über Literatur zu reden." Dann erzählt sie, dass sie seit gestern zwei Automatikwaffen hat. Mit denen kennt sie sich nicht aus, "aber ich schaff das schon, wenn's darauf ankommt!", sagt sie.
Hast du zu essen?, frage ich.
"Ja, ja, heute hatte ich Tee mit Twix."
Kann man in Kiew noch Lebensmittel kaufen?
"Ja, ein paar Geschäfte sind noch auf. Mach dir mal keine Sorgen!"
Was dann?
"Plan lieber deine Hochzeit, ich werd schon kommen", sagt sie und lacht mit ihrem lauten Violetta-Lachen.
Auch Stepan wird am Ende eine Hochzeit planen, obwohl er keine Hochzeit will. Wieder wird er ein Mädchen, das ihn liebt, zerfetzen, in den Abgrund treiben. Stepan wird leiden, schreiben, träumen, Frauen lieben, Frauen hassen, auf eine literarische und schöne, üble Art. Und wir? Wir werden - auf jeder Seite - mit ihm leiden, ihn hassen und ihn lieben. Mit ihm durch Kiew spazieren. Und werden schließlich wissen, dass große Kunst niemals vernichtet werden kann.
Selbst Stalin, der Ossip Mandelstam, Isaak Babel und eben auch Walerjan Pidmohylnyj töten ließ, konnte das Werk dieser Schriftsteller nicht auslöschen. Spätestens nach der Lektüre von Pidmohylnyjs großem, zärtlichem, brutalem Roman, der Josef Stalin überlebte, wissen wir, dass die Kultur und Bücher der neuen Ukraine auch Wladimir Putin überleben werden.
"Wir wussten immer: Die Ukraine gewinnt den Krieg. Und das ist jetzt Realität. Die Welt sieht sie. Sieht, wie gewöhnliche, normale Ukrainer russische Panzer aufhalten, vertreiben. Doch Welt, gib uns ein wenig Zeit!", so fängt das Manuskript von Violetta an. Ja, das ist ihr altes, großes Pathos. Und ich weiß trotzdem, dass sie recht hat.
ANNA PRIZKAU
Walerjan Pidmohylnyj: "Die Stadt" erscheint am 31. März im Guggolz Verlag, 413 Seiten, 26 Euro. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok.
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