Unehelich, Vegetarier, homosexuell, Linkshänder, leicht ablenkbar und durchaus ketzerisch - Leonardo da Vinci verlangte der Gesellschaft des 15. und 16 Jahrhunderts so manches ab. Und er gab viel zurück. Er schälte das Fleisch von Schädeln, um die Gesichtsphysiognomie zu erkunden, zeichnete die Muskulatur der Lippen nach - und malte erst dann das einzigartige Lächeln der Mona Lisa! Er studierte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen - und schaffte dadurch die wechselnden Perspektiven in seinem Gemälde "Das Abendmahl". Leonardos lebenslanger Enthusiasmus, Grenzen zu überschreiten, faszinierte bereits die einflussreichen Familien in Florenz und Mailand und gilt bis heute als wegweisendes Rezept für Kreativität und Innovationen. Walter Isaacson erzählt Leonardos Leben in völlig neuer Manier, indem er dessen künstlerisches und wissenschaftliches Wirken zueinander in Bezug setzt. Er zeigt dabei auf, dass Leonardos Genialität auf Fähigkeiten basierte, die jeder von uns in sich trägt und stärken kann: etwa leidenschaftliche Neugier, aufmerksame Beobachtung oder spielerische Einbildungskraft. Leonardo erinnert uns bis heute daran, wie wichtig es ist, nicht nur ständig neues Wissen zu erlangen, sondern dieses auch immer wieder zu hinterfragen, der Fantasie freien Raum zu lassen und abseits festgelegter Muster zu denken - so wie alle großen Geister der Weltgeschichte.
Besprechung vom 08.12.2018
Ein Geldsack muss für Judas genügen
Naiver Enthusiast gegen Kenner mit Sinn für entschiedene Thesen: Walter Issacson und Volker Reinhardt legen denkbar unterschiedliche Bücher über Leonardo da Vinci vor.
Rechtzeitig zum 2019 anstehenden fünfhundertsten Todesjahr und zur wieder aufflammenden Diskussion um die Zuschreibung des "Salvator Mundi" sind zwei Leonardo-da-Vinci-Biographien erschienen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und beide auf ihre Weise problematisch sind. Während der angelsächsische Bestsellerautor Walter Isaacson die längst überholte Auffassung vom Universalgenie hervorkramt, entwirft der im schweizerischen Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt das Bild vom Atheisten und Häretiker.
Von Isaacson hätte man diese Biographie kaum erwartet. Obwohl er Bücher über Albert Einstein und Steve Jobs verfasste und das Zeug mitbringt für die naturwissenschaftliche Seite von Leonardos Schaffen, hatte er sich bisher weder mit der italienischen Renaissance noch mit Kunstgeschichte beschäftigt. Daraus macht er auf angenehme Weise auch kein Hehl. Er gibt sich nicht als Kenner Leonardos, sondern als Enthusiast, der die Leser teilhaben lässt an seiner offen subjektiven Aneignung des Werks, die sich mit Thesen zurückhält. Tatsächlich erschließt er das gesamte Werk und hält den Leser mit einer gelungenen Mischung aus anschaulicher Beschreibung, Analyse und Anekdoten bei der Stange, auch in den Abschnitten zu Leonardos wissenschaftlichen Experimenten.
Diese bilden die Stärke des hervorragend illustrierten Buches, etwa wenn Isaacson Leonardos Beobachtungen zum Vogelflug nicht nur auf plastische Weise zusammenfasst, sondern in seiner historischen Einordnung gleich noch die Newtonschen Bewegungsgesetze erklärt und das "Bernoulli Prinzip", dessen Verwendung in aero- und hydrodynamischen Berechnungen Leonardo um rund zweihundert Jahre vorwegnahm.
Mit der Begeisterungsfähigkeit des Laien erliegt Isaacson jedoch dem Mythos Leonardo und frönt einem nahezu hemmungslosen Geniekult, der vermutlich auch Leonardo DiCaprio dazu veranlasste, die Filmrechte für das Buch zu erwerben. Dazu passen Isaacsons ständige Gegenwartsbezüge. Freilich, in mancher Hinsicht scheint Leonardo dem Zeitgeist des einundzwanzigsten Jahrhunderts nahezustehen. Er war Vegetarier und Naturfreund, mehr oder weniger offen homosexuell, nicht kirchenhörig, und als Weltenbummler nahm er sogar ein wenig die Globalisierung vorweg.
Doch bringen uns solche scheinbaren Gemeinsamkeiten Leonardo kaum näher, und sie sind sogar irreführend, wenn sie nicht auf präzise Weise historisch kontextualisiert werden. So hat nicht zuletzt Foucaults "Geschichte der Sexualität" auf das grundlegend andere Verständnis von Homosexualität in der Frühen Neuzeit aufmerksam gemacht. Leonardo wurde in seiner Jugend in Florenz wegen Sodomie in Arrest genommen, doch galt er deshalb nicht als Homosexueller, da es diese Kategorie noch gar nicht gab. Geradezu peinlich berührt der Abschnitt "Von Leonardo lernen". Mit seinen zwanzig esoterisch anmutenden Merksätzen ("Bewahre dir ein kindliches Staunen") macht er aus Leonardo einen kalifornischen Yogalehrer.
Von solch ostentativer Naivität ist Volker Reinhardt als einer der profiliertesten Renaissancehistoriker seiner Generation meilenweit entfernt. Das zeigt sich nicht zuletzt in Reinhardts kritischer Quellenlektüre. Während Isaacson die Begeisterung von Giorgio Vasari, Leonardos erstem Biographen, für bare Münze nimmt, liest Reinhardt zwischen den Zeilen eine weitaus kritischere Haltung heraus, vor allem gegenüber Leonardos mangelhaftem christlichen Glauben. Ebenso enttarnt er Matteo Bandellos zeitgenössische Beschreibung von Leonardos Arbeitsweise als gezielten Versuch, Leonardo vom Stigma des körperlichen Arbeiters zu befreien. Da dieses für den niedrigen sozialen Status der Malerei in der Renaissance verantwortlich war, betonte der Schriftsteller, wie Leonardo als Maler-Philosoph ein geistig schaffender Künstler gewesen sei.
Darin zeigt sich Reinhardts stets auf originelle Beobachtungen zielende Haltung. Im Gegensatz zum primär beschreibenden Isaacson gibt es bei ihm kaum einen Absatz ohne entschiedene These. Dieser atemlose, bisweilen auch polemische Stil sorgt für eine äußerst unterhaltsame Lektüre, aus der ein völlig neues, radikales Bild hervorgehen soll: Leonardo, der militante Atheist und Nonkonformist, der in seinen Werken subversiv gegen Kirche, Glaube und sogar die eigenen Auftraggeber vorging.
So verunklärt Leonardo angeblich die Figur des Judas im "Letzten Abendmahl", ganz im Gegensatz zu konventionellen Darstellungen. Dadurch wolle er, so Reinhardt, den Unterschied zwischen Treue und Verrat nivellieren und Zweifel sähen: "Gewissheit im Glauben und Frömmigkeit stärkte Leonardos ,Abendmahl' jedenfalls nicht." Da Judas aber sehr wohl zu identifizieren ist, nicht zuletzt wegen seinen Geldsacks, kommt Reinhardt zu der noch kühneren Mutmaßung, dass Leonardo mit der dunklen Hautfarbe des geldgierigen Verräters auf Ludovico Sforza anspielen wollte, der den Spitznamen "Il Moro" trug.
Obwohl Judas traditionell als "verschattet" dargestellt wurde, sieht Reinhardt hierin einen Kommentar zum Geiz seines Auftraggebers, zu dem Leonardo ein angespanntes Verhältnis gehabt haben soll. Sogar für das Abblättern der Farbe, welches dem Bild bereits zu Leonardos Lebzeiten zusetzte, hat Reinhardt eine eigene Erklärung. Leonardo habe das Fortleben seiner Werke nicht "sonderlich interessiert" und deren Zerstörung billigend in Kauf genommen, da dies dem Kreislauf der Natur entspräche, die unaufhörlich hervorbringt und zerstört.
Gegenüber dieser gedanklichen (und auch sprachlichen) bravura nimmt sich Isaacsons Abhandlung aller wesentlichen Aspekte des "Abendmahls", die in der Erkenntnis gipfelt, dass die rätselhaften Züge des Bildes eine "Metapher für Leonardos Genie" seien, bloß bieder aus. Wegen seiner ständigen Zuspitzung mangelt es Reinhardt jedoch an Präzision, was schade ist, denn gerade Leonardos Haltung zum Glauben ist ein immer noch ungeklärtes Thema. Insbesondere mit seinen anatomischen Studien - Leonardo galt etwa der Embryo als Körperteil der Mutter, nicht als eigenes menschliches Wesen - widersetzte er sich römischen Dogmen und verspottete sie bisweilen
Doch anders als Reinhardt nicht müde wird zu behaupten, bedeutet das nicht gleich, dass Leonardo ein "Nichtgläubiger" war. Jacob Burckhardts in der Tradition der Aufklärung stehendes Verständnis vom säkularisierenden Humanismus der Frühen Neuzeit ist seit langem einem weitaus komplexeren Bild gewichen, wonach die Wiederentdeckung der Naturwissenschaften nicht etwa die christliche Schöpfungslehre unterlief, sondern sich vielmehr in deren Dienst stellte, indem sie die Natur erforschte und damit wertschätzte. So fällt auf, dass Leonardo neben Porträts vor allem religiöse Bilder malte, und das nicht nur am Anfang seiner Karriere, als er noch gezwungen war, alle Aufträge anzunehmen. Einige dieser Bilder malte er sogar für sich, wie etwa den späten "Johannes der Täufer" im Louvre.
Es wäre also zu fragen, ob Leonardos Haltung eine Bewegung war, die zunehmend zwischen Glaube und Kirche unterschied und die noch zu seinen Lebzeiten in Martin Luthers Reformationsbewegung gipfelte. Reinhardt, der vor kurzem eine Luther-Biographie verfasste, wäre für eine solche Untersuchung im Grunde prädestiniert gewesen.
BENJAMIN PAUL
Walter Isaacson: "Leonardo da Vinci". Die Biographie.
Aus dem Englischen von
Karin Schuler und Andreas Thomsen.
Propyläen Verlag, Berlin 2018. 725 S., geb., 39,- [Euro].
Volker Reinhardt: "Leonardo da Vinci". Das Auge der Welt. Die Biographie.
C. H. Beck Verlag,
München 2018.
383 S., Abb., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.