Besprechung vom 15.10.2023
NEUES REISEBUCH
"Unreasonable Hospitality" - "unvernünftige Gastfreundschaft" heißt das Buch, das zuletzt in der Gastroszene in aller Munde war, und wenn man das hört, möchte man sogleich einwerfen, dass Gastfreundschaft für manche Menschen ja eigentlich per se schon unvernünftig ist. Doch darum geht es hier nicht. Hier geht es um ein Gastgewerbe, das so überdreht wurde, dass man es als unvernünftig bezeichnen muss. Autor Will Guidara, bis 2018 Mitinhaber des Eleven Madison Park, eines der laut "The World's 50 Best Restaurants" besten Restaurants der Welt, verrät in diesem Buch sein Erfolgsrezept und spricht über "die bemerkenswerte Macht, Gästen mehr zu geben, als sie erwarten".
Die Liste der "50 Best" wird - anders als die Sterne des Guide Michelin - seit 2002 von einem Gremium bestimmt, das aus 1080 Chefs, Gourmets und Journalisten besteht, deren Namen keiner kennt. Nominiert werden jährlich 100 Restaurants, zur Preisverleihung eingeladen nur 50, weswegen es verwundert, dass Will Guidara und sein Koch Daniel Humm bei ihrem ersten Mal im Jahr 2010 lange Gesichter machten: "Letzter!" Statt sich zu freuen, überhaupt dabei zu sein. In jener Nacht beschlossen sie, die Nummer 1 zu werden. Sie betrachteten die Konkurrenz, etwa El Bullis Molekularküche oder das Noma mit dem Fokus auf lokale Produkte, und fragten sich: Was können wir tun, was bahnbrechend wäre? "Unvernünftige Gastfreundschaft", schrieb der aus dem Restaurantmanagement kommende Guidara in dieser Nacht auf eine Serviette. Damit und mit Humms Kochkunst wollte er die Welt auf den Kopf stellen.
Bei Guidara lernt man einen genusswahnsinnigen Perfektionisten kennen, der nicht aus der Küche kommt, sondern aus dem Drumherum: dem Bewirtschaften, dem Controlling, dem Service, allem, was nötig ist, damit das Können von Spitzenköchen leuchten kann. Und es ist auch seine eigene kulinarische Biographie, die beginnt, als er zu seinem 12. Geburtstag von seinem Vater Frank zum Diner ins New Yorker Four Seasons mitgenommen wird und dort beschließt: "Fortan wollte ich das auch tun: Magie in eine Welt bringen, die zu wenig davon hat."
Die Ratschläge des Vaters, der ebenfalls im Gastgewerbe tätig war, sind oft rührend. Benimmt sich jemand daneben? "Vermute das Beste, vielleicht hat er gerade einen schweren Tag." Oder: "Lauf nicht vor dem weg, was du nicht magst. Lauf auf das zu, was du willst." Guidara erzählt von seiner Zeit als Praktikant im kalifornischen Spago, als Cornell-Student, und wie er später mit einem jungen Team bei Eleven Madison Park einsteigt. Da ist er Ende zwanzig, Koch Daniel Humm gerade mal Anfang dreißig. Das Durchschnittsalter der Angestellten beträgt unter ihrer Ägide bald 26 Jahre.
Es wird berichtet vom Druck, von Kritikern und Kosten, vom Crash 2008 und wie sie ihn überleben. Manche Kapitel erinnern an Auszüge aus Verhaltenstrainingsbüchern, dann ist es wieder eine Zeitreise ins kulinarische New York der Nullerjahre. Erst gegen Ende des Buches geht es um das Erzeugen unvernünftiger "Legenden". Da gibt es den Gast, der sein Auto an der Parkuhr stehen hat und für den jemand immer wieder rausgeht und Münzen nachwirft, damit er in Ruhe essen kann. Da gibt es das Pärchen, das eine Flasche Champagner im Eisfach vergessen hat und fragt, ob die platzen wird (ja, wird sie). Kurzerhand fährt ein Mitarbeiter in die Wohnung, rettet die Flasche, und als das Pärchen heimkommt, findet es nicht nur den Champagner, sondern auch Kaviar und Delikatessen vor. Einer spanischen Familie, deren Kinder in New York den ersten Schnee erleben, wird spontan ein Schlitten geschenkt. Eine Näherin fertigt einen Teddy aus Küchentüchern, weil ein Gast kein Geschenk für sein Kind hat. Eleven Madison Park gehört inzwischen zur "Hall of Fame" der "50 Best" und darf nicht mehr gewählt werden, so wie etwa El Bulli oder The Fat Duck. Guidara und Humm haben sich vor ein paar Jahren getrennt. Das Restaurant feierte gerade 25-jähriges Bestehen.
Gastfreundschaft bedeutet, man muss Menschen mögen. Anfang des Jahres verkündete Noma-Chef Redzepi, dass er Ende 2024 schließen will, weil er meint, gehobene Küche sei unter menschlichen und finanziellen Aspekten nicht mehr tragbar. Sie sei unvernünftig. Nachhaltig wird gehobene Küche vielleicht nie, aber magisch kann sie bleiben. Denn im Grunde genommen ist "Unreasonable Hospitality" nichts anderes als wirklich wahre Gastfreundschaft. Jeder gute Gastgeber ist unvernünftig, wenn er mehr tut, als er muss. Alles andere ist nämlich nur ein Job. weit
Will Guidara: "Unreasonable Hospitality: The Remarkable Power of Giving People More Than They Expect", Optimism Press, 288 Seiten
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