Besprechung vom 14.10.2023
Die unverschämte Heldin erobert die Welt
Unsterblicher William Makepeace Thackeray: Sein "Jahrmarkt der Eitelkeit" erscheint in neuer deutscher Übersetzung.
Von Paul Ingendaay
Von Paul Ingendaay
Einige Jahrzehnte lang galt William Makepeace Thackeray (geboren 1811 in Kalkutta, gestorben 1863 in London als Opfer eines Lebens voller Essen, Trinken und strikter Vermeidung körperlicher Aktivität) als Englands größter Schriftsteller nach Charles Dickens. Charlotte Brontë widmete dem verehrten Meister ihren Roman "Jane Eyre". Auch nach seinem Tod feierte die Encyclopaedia Britannica den Romanautor, Satiriker, Dichter und Kritiker - auf dessen Kolumne in der Zeitschrift "Punch" die Verbreitung des Begriffs "Snob" zurückgeht - noch als Allroundkünstler. Aber der Ruhm währte nicht ewig, und von den vielen Titeln aus Thackerays Feder hält die Nachwelt vor allem einen in Erinnerung: "Jahrmarkt der Eitelkeit", erschienen in vierundzwanzig Teilen zwischen Januar 1847 und Juli 1848. Es ist immer noch eine Verbeugung vor Thackeray, dass das amerikanische Magazin "Vanity Fair" sich mit seinem Romantitel schmückt.
Das berühmteste Element dieses gesellschaftssatirischen "Romans ohne Held" ist seine ungewöhnliche Heldin: Becky Sharp, die schöne, kalte, manipulierende Person im Zentrum der weitgesponnenen Handlung, eine Frau von zweifelhafter Herkunft, deren Faszination darin liegt, dass der Autor ihr Mut, Frechheit, die scharfsinnigsten Dialogzeilen und den brillantesten Verstand mitgegeben hat. Becky also ist die Heldin, nicht die anständige, verletzbare Amelia Sedley, die ihre Gegnerin viel zu spät durchschaut; Becky beherrscht die Szene, nicht der linkische, herzensgute William Dobbin, der fast den ganzen Roman hindurch nach der tugendhaften Amelia schmachtet, welche aber einen anderen liebt, der seinerseits in der Schlacht von Waterloo fällt.
Der Tod des Mannes kommt am Ende eines Kapitels in einem einzigen trockenen Satz, wie ein nicht zu lauter Peitschenknall. Der historische Hintergrund des Romans, die Napoleonischen Kriege mit dem Höhepunkt Waterloo, wird nicht auf dem Schlachtfeld geschildert, sondern durch Nervosität und Chaos der englischen Gesellschaft in Brüssel, die sich um ihre Angehörigen in Uniform sorgt. Hier verkauft Becky die Pferde ihres Mannes, der ebenfalls bei Waterloo kämpft, und legt den Grundstein für ihr Vermögen. Später verlagert sich die Szene nach Paris. Bei Thackeray ist vieles in Bewegung, und der Experte für Spannungsbögen und Cliffhanger steckt alles mit überbordender Fröhlichkeit an. Es gibt hinreißende Gesellschaftsszenen, komische Charakterporträts und große Momente der Rührung. Doch das Lächerliche ist nie fern. Thackerays Satire trifft einen englischen Mittelstand, der langsam in den alten Adel eindringt, aber selbst nicht sicher ist, ob er dessen Aufgeblasenheit bekämpfen oder imitieren soll.
Im Grunde ist es die alte Geschichte aller englischen Romane jener Zeit: vorteilhaft heiraten, reich erben und aufsteigen, egal mit wem, egal wohin. Und das heißt: Risiko am Spieltisch, Schuldscheine, gebrochene Versprechen, dazu Heuchelei, üble Nachrede und Lügen ohne Ende. Manche seiner zeitgenössischen Leser warfen dem Autor deshalb Zynismus vor, und Nummer 39 heißt passenderweise: "Ein zynisches Kapitel". Doch er selbst empfand sich als Realisten, begriff seinen Roman als großes Puppenspiel und jonglierte mit den Konventionen der englischen Tradition. Seine beiseitegesprochenen Beobachtungen - denn der Autor will bemerkt werden - handeln davon, wie Frauen einander verletzen, wie viel Männer auf einen Blödsinn wie Waffen und Uniformen geben, was Bedienstete von ihrer Herrschaft denken könnten und geradezu prophetisch von den Kleinsten: "Wenn die Leute doch nur Kinder sich selbst überlassen würden; wenn Lehrer aufhören würden, sie zu schikanieren; wenn Eltern nicht darauf bestehen würden, ihre Gedanken zu lenken und ihre Gefühle zu bestimmen . . . - wenn, sage ich, Eltern und Lehrer ihre Kinder ein bisschen mehr in Ruhe lassen würden, entstünde kein großer Schaden."
Hans-Christian Oeser, der für den Reclam Verlag die neunhundert Seiten neu ins Deutsche übersetzt hat, bringt eine rare Kombination wichtiger Qualitäten dafür mit: Texttreue, Stilempfinden, einen gelenkigen Satzbau und ein gutes Ohr für die sozialen Schattierungen von gesprochener Sprache. Als etwa der clevere Pitt Crawley seiner hinfälligen Tante, auf deren Reichtum es alle in der Familie abgesehen haben, seine junge, liebe und überaus scheue Frau vorstellen will, Lady Jane, ist zunächst eine Hürde in Gestalt einer Dienerin zu überwinden. Beim Abschied heißt es: "Auch Lady Jane errötete, als sie Miss Briggs eine freundliche kleine Hand reichte, und sagte etwas sehr Höfliches und Unzusammenhängendes über Mama und ihr Vorhaben, Miss Crawley aufzusuchen; und wie froh sie sei, mit Mr Crawleys Freundinnen und Verwandten bekannt gemacht zu werden; und grüßte Miss Briggs beim Abschied mit sanften Taubenaugen, während Pitt Crawley sie mit einer tiefen, hofmännischen Verbeugung bedachte, wie er es gegenüber Ihrer Hoheit der Herzogin von Pumpernickel zu tun pflegte, als er noch Attaché an deren Hofe war." Ein Hauch von Proust liegt über diesen letzten Zeilen, in denen die Ironie der Erzählstimme die genaue Kenntnis gesellschaftlicher Etikette so durchdringt, dass beide spürbar bleiben und keine verblasst. (Große Schriftsteller erschaffen sich ihre Vorläufer.)
Dergleichen fein austarierte Prosa liest man in älteren deutschen Übersetzungen nicht. Bei Elisabeth Schnack (Manesse Verlag, 1959) "stammelt" Lady Jane ihre Sätze, was eine unnötige Vergröberung des hier geschilderten sozialen Austauschs ist. Und Theresia Mutzenbecher (Artemis & Winkler, 1958) ruiniert gleich den ganzen Satz. "Auch Lady Jane wurde rot", heißt es bei ihr, "als sie Miss Briggs freundlich das Händchen hinhielt . . ." Nein, mit einem "Händchen" ging es schon damals nicht. Ein Händchen ist für Thackeray einerseits zu klein, andererseits zu grob. Oeser erkennt in dem Wort "incoherent" auch den feinen semantischen Unterschied zwischen "unzusammenhängend" und "zusammenhanglos". Und weil er es tatsächlich sehr genau nimmt, macht er es anders als seine Vorgängerinnen und übersetzt die witzigen Kapitelüberschriften so, wie sie formuliert wurden, und stellt sie an den Anfang des Romans, wo sie hingehören.
Ebenso vernünftig war die - vielleicht aus Kostengründen getroffene - Entscheidung des Verlags, auf Thackerays eigene Illustrationen seines Meisterwerks zu verzichten: So nostalgisch die Radierungen, Vignetten und Initialen der alten englischen (und mancher deutschen) Ausgaben anmuten, sie bleiben doch weit hinter der Komplexität seiner Romankunst zurück.
Was ist noch heute so faszinierend an Beckys Durchtriebenheit, dass es immer wieder neue Hörbuchproduktionen dieses Romans gibt, allein neun (!) auf dem englischen Markt mit jeweils mehr als dreißig Stunden Hördauer? Die Sprache des Ganzen natürlich, die Farbpalette, der Mix aus Komik und Tragik. Die vielfältigen Stimmen zwischen romantischem Sehnen und echt britischer Schrulligkeit. Aber ganz sicher auch, dass Becky Sharp durch Ehrgeiz und Skrupellosigkeit die Vorurteile ihrer Zeit beiseiteschiebt und uns, die Leser, zu ihren Komplizen macht. Wahre weibliche Selbstbestimmtheit, so die Botschaft, erforderte damals wahre Unverschämtheit.
Über sich selbst sagt die Heldin einmal, sie hätte auch moralisch gut sein können, wenn sie nur das Geld dafür gehabt hätte. "Jahrmarkt der Eitelkeit" sprengt den englischen Sittenroman gleichsam von innen, weil er uns an unsere eigene Gefangenheit in sozialen Codes erinnert. Es darf sogar darüber gelacht werden. Und das Schönste daran: Der Erzähler selbst, dem man eine nahe Verwandtschaft mit dem Autor William M. Thackeray unterstellen darf, streckt vor der bösen Erfindungskraft seiner Heldin die Waffen. Sein großer, unsterblicher Roman ist ihr Monument.
William Makepeace Thackeray: "Jahrmarkt der Eitelkeit". Roman ohne Held.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Reclam Verlag, Ditzingen 2023. 950 S., geb.
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