Beim Müll geht es ja immer um das Trennen. Darum sag ich, Müll beste Schule für das Denken. Weil du hast die Kategorien, sprich Wannen. Ohne die klare Trennung kannst du jedes Recycling vergessen. Und da bin ich noch nicht einmal bei den Problemstoffen.
Auf einem der Wiener Mistplätze (dt.: Altstoffsammelzentrum) herrscht strenge Ordnung, bis eines Tages in der Sperrmüllwanne ein menschliches Knie gefunden wird. Schnell tauchen in anderen Wannen weitere Leichenteile auf, die entgegen der Mistplatzordnung und zum großen Leidwesen der Müllmänner allesamt nicht korrekt eingeworfen wurden. Nur vom Herz des zerlegten Toten fehlt jede Spur. Die Kripo weiß nicht weiter. Zum Glück ist unter den Müllmännern ein Ex-Kollege, der nicht nur das fehlende Herz samt Begleitschreiben findet, sondern auch nie vergessen hat, was man bei Mord bedenken muss. Und damit steckt Simon Brenner nicht nur in einem neuen Fall, sondern auch bis zum Hals in Schwierigkeiten.
Inhaltsverzeichnis
Besprechung vom 27.02.2022
Auf das Maul aus dem Jenseits
Wolf Haas hat einen neuen Fall für seinen unsterblichen Ermittler Brenner geschrieben. Und wieder ist es die falsche Frage, wer der Mörder ist.
Da ist er wieder, der Brenner, und man muss schon sagen, man hat ihn vermisst, diesen österreichischen Ex-Polizisten, Ex-Sanitäter, Ex-Detektiv und Ex-Arbeitslosen, der in Kriminalfälle hineinschlittert wie ein Sommerreifen in einen Wintereinbruch. Der Brenner also, er arbeitet nun bei den "Mistlern" auf einem Wertstoffhof in Wien, und wieder mal ist das Verbrechen genau da, wo er ist: Gerade hat irgendjemand Leichenteile auf verschiedene Wertstoff-Wannen verteilt.
"Müll" heißt der neue Roman von Wolf Haas und es ist, als wäre dessen Hauptfigur nie weg gewesen. War sie aber. Acht Jahre sind seit "Brennerova" vergangen, neunzehn Jahre seit "Das ewige Leben". In jenem Buch wurde, und das wirkte dann doch ziemlich endgültig, der Erzähler in die Geschichte hineingezogen und am Ende erschossen. Jener Erzähler mit diesem sehr speziellen Ton, der alle neun Fälle prägt und die ersten sechs Bücher immer mit dem gleichen Satz eingeleitet hatte: "Jetzt ist schon wieder was passiert." Und jener Erzähler, der in "Der Brenner und der liebe Gott" sechs Jahre nach seinem eigenen Tod zurückkam und erstmals den ersten Satz variierte: "Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen."
Seither, so muss man annehmen, erzählt das Maul weiter, und auch wenn das damals eine schwache Begründung für ein Comeback war, merkt man nun schnell, dass man dieses Maul - oder was auch immer - noch viel mehr vermisst hat als den Brenner. Und dass die eigentliche Hauptfigur der Geschichte gar nicht der Brenner ist, sondern eine Stimme, die vor neunzehn Jahren mit einem furiosen und zwei Seiten langen "ding ding ding ding" aus seinem Leben geschieden ist.
Daran merkt man schon, wie schön durchgeknallt diese Wolf-Haas-Konstellation mal wieder ist - und wie sehr die Sprache die Geschichte des Brenners verdrängt. So sehr, dass der Fall in den Hintergrund gerät, am Ende gar nicht so komplex ist, wie man zwischendurch meinen möchte. Der Mord ist gar kein Mord? Die Frau im Tesla gar keine Verdächtige? Die Tochter und die Frau des Toten aber schon? Oder war es doch die Organ-Mafia? Egal, denn Wolf Haas lullt seine Leser mit dieser wunderbaren Erzählstimme ein, mit der seit "Auferstehung der Toten", dem ersten Brenner-Fall von 1996, eine ganz neue Sprache in die deutsche Literatur eingezogen ist. Seither hat man einen bärtigen Märchenonkel vor dem Kaminfeuer vor Augen, eine sonore Stimme und den geselligen Du-Ton im Ohr: "Aber pass auf, was ich dir sage." "Und du darfst eines nicht vergessen." "Hör zu." "Darum sage ich immer."
Hinter diesen Sätzen steht nie ein Doppelpunkt, wie Wolf Haas überhaupt Doppelpunkte und Gedankenstriche meidet. Das entbindet diese Sätze von ihrer Einleitungsfunktion, macht sie zu eigenständigen Elementen. So, als würde der Erzählonkel sich eine Pfeife anstecken und man selbst die Zeit nutzen, um zu überlegen, wie die Geschichte weitergeht. An anderen Satzenden, wo eigentlich ein Punkt kommen müsste, stehen oft ein Komma und Zusätze wie: "... frage nicht.", "... ja, was glaubst du." oder "..., siehst du." Anderswo wird dagegen aufs Wesentliche reduziert, oft ohne Verben und Artikel: "Jetzt interessant." "Puzzlemeister Hilfsausdruck. Weil natürlich der Ehrgeiz." "Aber normalerweise immer alles unter Kontrolle."
Den Brenner hat der Erzähler dabei immer genau im Blick, ist ihm voraus und fragt sich, wie lange es noch dauert, bis er die Dinge durchschaut. So entsteht ein Dreieck aus Erzähler, Brenner und Leser. Der Erzähler wendet sich mit seinem "du" direkt an den Leser, der Leser liest, was der Brenner macht, und der Brenner tappt im Dunkeln, während der Erzähler schon viel weiter ist und sagt: "Aber das hätte ich ihm erklären können." Tut er aber nicht und lässt damit wiederum den Leser grübeln, der nach der Hälfte des Buches auch noch keine Ahnung hat, was da alles vor sich geht.
Das ist schon sehr durchdacht und die Brenner-Romane von Wolf Haas nicht umsonst seit vielen Jahren Thema von Germanistik-Seminaren, Hausarbeiten und erzähltheoretischen Abhandlungen. Es wurden Wortstellung und Syntax untersucht, die narrative Instanz, Erzähler- und Figurenrede, Erzählmodus und Erzählzeit, Stimme und Fokalisierung. Und man muss sagen: Keiner setzt Theorien von Roland Barthes, Gérard Genette und Franz K. Stanzel so charmant in Kriminalromane um wie Wolf Haas.
Dass das in "Müll" wieder so gut funktioniert, liegt auch am Wissensvorsprung, den der Erzähler gegenüber dem Brenner hat, dem "Zeitpunkt des Erzählens", um in einer weiteren Kategorie der Erzähltheorie zu bleiben. Die "furchtbare Geschichte", um die es hier geht, liegt nämlich schon eine Weile zurück und nur der Erzähler kennt ihren Ausgang und ihre Konsequenzen. "Aber dir kann ich es ja schnell erzählen", sagt er und lässt dann verschlüsselt durchblicken, dass sechs Jahre vergangen sind. "Der Kopf war immer noch zehn Jahre jünger als der Brenner, aber er war jetzt zehn Jahre älter als der Brenner damals bei der Kripo. Wenn du einen anschaust, der gleichzeitig jünger und älter ist als du, da wirst du verrückt im Hirn."
Das heißt: Wenn der Brenner jetzt sechzig ist, dann ist sein Kollege, der Kopf, fünfzig, und somit war der Brenner damals vierzig. Daraus ergibt sich, dass der Brenner vor zwanzig Jahren bei der Polizei war, und weil er nur im ersten Teil, 1996, Polizist war, spielt die Geschichte im Jahr 2016.
Aber wer der Erzähler ist, dieses Maul aus dem Jenseits, darüber lässt sich noch immer nur mutmaßen. Es gibt irgendeine Verbindung zum Brenner, das weiß man seit "Das ewige Leben". Damals hatte er im Haus von Brenners Großeltern in Graz als Untermieter gelebt, als "Hausgeist" habe ihn Brenners Großmutter bezeichnet. Er ist, so viel lässt sich sagen, sehr österreichisch, sagt "Mistler", "Grant" (Zorn), "heimdrehen" (umbringen), "Partezettel" (Todesanzeige), "einen Haxen ausfreuen" (jubeln) und "Schneebrunzer" (Idiot). Er verliert sich gerne in alltagsphilosophischen Überlegungen über die Bedeutung von Lachern, Seufzern und Schnaufern sowie scheinbaren Banalitäten wie einem Notizzettel und was der mit der Trägheit eines Menschen zu tun hat. Und dass es ein großer Unterschied ist, wenn jemand in einem Satz: "Er ist" weglässt und nur "Doch viel älter geworden" sagt. Fast meint man, der Erzähler säße in einem dieser Wolf-Haas-Germanistik-Seminare, oder zumindest sein Maul.
Und damit wären wir wieder beim Wörtchen "ding", das dem Erzähler bei seinem Tod vierhundertfach im Ohr trommelte. Das hallt nämlich in verschiedensten Situationen nach: "ding" steht für unerzogen, verrucht, unverschämt, unstimmig, regelwidrig, bescheuert oder tot. Und das alles dingst sich ziemlich gut zusammen, ein bisschen "Ulysses"-Stream-of-Consciousness, ein bisschen Ernst-Jandl-Lyrik, ein bisschen transkribierter Wien-"Tatort", ein bisschen Josef-Hader-Kabarett, Hader, der den Brenner in vier Verfilmungen so kongenial gespielt hat.
Am Ende geht es dem Leser wie dem Brenner: Er stolpert durch dieses Buch, etwas desorientiert und schwindlig gedreht von der Sprache, aber immer leichtfüßig und amüsiert vom Wiener Schmäh, und fragt sich: Wer könnte der Mörder sein? Und dabei merkt er gar nicht, dass ihn ganz hinten im Kopf noch eine andere Frage quält: Wer könnte der Erzähler sein? ANDREAS LESTI
Wolf Haas, "Müll". Roman, Hoffmann und Campe, 288 Seiten
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