Besprechung vom 09.11.2024
Verwicklung des Individuums
Er legt die Befindlichkeit des Fachs bloß: Der Historiker Wolfgang Hardtwig setzt seine Lebenserinnerungen fort
Treffe der Eindruck zu, "dass sich Amerika zunehmend schwertue, die richtigen Kandidaten für die Präsidentschaft zu finden"? Diese Frage stellte der deutsche Historiker Wolfgang Hardtwig 1987 jemandem, der es wissen musste - und das vielleicht zu gut. Jimmy Carter, der 39. Präsident der Vereinigten Staaten, der die Wahl 1980 gegen Ronald Reagan verloren hatte, hob in seiner Antwort auf die institutionelle Mechanik des politischen Betriebs ab und beschrieb ein funktionsfähiges System der Bestenauslese, das lernfähige Kandidaten belohne: Diese müssten sich schon bei den Vorwahlen gegen zahlreiche Konkurrenten durchsetzen und lernten auf ihren Wahlkampfreisen dann das ganze Land und dessen Probleme kennen. Selbstkritisch notiert Hardtwig in seinen Memoiren, deren zweiter Band pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag am morgigen Sonntag erschienen ist: "Naiverweise merkte ich erst, nachdem die Frage heraus war, dass sich Carter auch selbst gemeint fühlen musste."
Als Gastprofessor an der Emory-Universität in Atlanta nahm Hardtwig am halbjährlichen Ritual einer Fragestunde teil, in der sich der Namensgeber der Carter-Bibliothek zur Weltpolitik verbreitete. Verwundert erfuhr er, dass in diese Austragshäuser, die sich die Altpräsidenten hinter akademischen Fassaden errichten lassen, gewöhnlich eine exakte Nachbildung des Oval Office eingebaut wird. Der "historian from Germany", dem Carter das Wort erteilte, obwohl "die Ostasiaten und der Ägypter" ihn, wie Hardtwig zu spüren meinte, stärker interessierten, durfte noch eine zweite Frage stellen. Wenn die Sondierung des Qualitätsabfalls des Führungspersonals der Vormacht der freien Welt ein Fauxpas gewesen war, so machte ihn Hardtwigs zweiter Versuch keineswegs wieder gut. Im Gegenteil: "Eisige Stille senkte sich über den Raum, niemand rührte sich, alle saßen wie erstarrt." Hardtwig hatte berichtet, dass in der Bundesrepublik über ein Zentraldenkmal für alle Opfer von Krieg und Gewalt diskutiert werde, und Carter um dessen Meinung darüber gebeten, ob das 1982 eingeweihte Vietnam-Memorial als Vorbild für Deutschland geeignet sei, zumal "sich selbst Helmut Schmidt positiv zu so einem Denkmal geäußert" habe.
Den Kälteeinbruch im ovalen Ehrenamtszimmer führte Carter mit der Feststellung herbei, dass die Deutschen, um das Denkmal aus Washington nachzubauen, zunächst einmal einen neuen Krieg anfangen müssten. Mit Naivität entschuldigt Hardtwig es nicht, dass er sich auf den früheren Bundeskanzler als Autorität berief, obwohl Schmidts kritische Einschätzung seines amerikanischen Kollegen damals das Gegenteil eines Staatsgeheimnisses war. Offenkundig ließ sich Hardtwig von einem gewissen Trotz bestimmen. Er war nicht zufrieden damit, Teilnehmer einer Audienz zu sein, sondern nahm das wissenschaftliche Dekor der Veranstaltung ernst und den Gastgeber sozusagen beim impliziten Wort: Wenn Carter wirklich etwas im Gespräch lernen wollte, mussten ihm auch unbequeme Fragen genehm sein.
Die Anekdote ist bezeichnend für beide Beteiligte, den aus der Nähe beobachteten Weltstaatsmann und den Historiker als Zeitzeugen. Carter schlug die Einladung des deutschen Besuchers aus, die Lektionen der Bewältigung des Vietnam-Traumas zu universalisieren und aus der Singularität nationaler Schuld Kapital für eine gedenkpolitische Vormachtstellung zu schlagen. Für Hardtwig ist das Bezeichnendste an der Anekdote, dass er sie überhaupt erzählt, ungeschönt, mit den Pointen auf seine Kosten. Ein Leopold von Ranke, aber auch mancher jüngere Fachgenosse hätte die Verstöße gegen die protokollarischen Erwartungen an eine solche Begegnung von Staatskunst und Historiographie wohl diskret zu kaschieren verstanden oder wenigstens heruntergespielt. Ehrlichkeit in eigener Sache gehört demgegenüber zum Habitus von Wolfgang Hardtwig.
Wann sind Denkwürdigkeiten eines Historikers lesenswert? Hardtwigs Kindheitserinnerungen "Der Hof in den Bergen" (F.A.Z. vom 30. Dezember 2022) fesseln durch die Überblendung zweier höchst individueller Konstellationen. Er wuchs in Reit im Winkl auf und erlebte in der sozialen Außenwelt den totalen Wandel einer agrarischen Gesellschaft, deren Hierarchien so steil gewesen waren wie die Berghänge, denen der Lebensunterhalt abgewonnen wurde. Die Innenwelt der Familie war bestimmt vom Klassenunterschied der Eltern, dessen Überwindung der gemeinsame Glaube an die akademische Bildung versprach; über den prekären Verhältnissen, in denen der Vater nicht über den Status des Privatdozenten hinauskam, schwebte der Schatten des Vaters der Mutter. Eduard Hamm, Reichswirtschaftsminister von 1923 bis 1925, hatte im nationalsozialistischen Bayern einen Kreis oppositioneller Honoratioren organisiert und kam im September 1944 in Berliner Gestapohaft zu Tode, sechs Wochen vor der Geburt des Enkels. "Der Hof in den Bergen" ist die Mentalitätsgeschichte eines Individuums: Unter vielfach vermitteltem Erwartungs- und Leidensdruck wuchs ein überempfindlicher Zeitgenosse heran.
Der zweite Band der Memoiren wird hauptsächlich Leser mit einem Faible für die Geschichte der Geschichtswissenschaft interessieren. Aber jenseits des Quellenwerts insbesondere der umfangreichen Darstellung des Umbaus der Berliner Humboldt-Universität, wo Hardtwig zur Kohorte der ersten West-Professoren gehörte, ist das Buch auch ein wissenssoziologisches Dokument: Die Empfindlichkeit des Verfassers bewährt sich wie im Kabinettstück aus Atlanta als Sensorium für Umgangs- und Kommunikationsformen, und mit eigenen Befangenheiten legt Hardtwig die Befindlichkeit einer ganzen Wissenschaftskultur bloß. Jimmy Carter manipulierte die Raumtemperatur nicht anders als ein deutscher Großordinarius wie Hans Robert Jauß, der Hardtwig im Bad Homburger Arbeitskreis zur Theorie der Geschichte abkanzelte, weil der Schützling Thomas Nipperdeys einen einschlägigen Aufsatz des Konstanzers nicht gelesen hatte.
Aus dem postum veröffentlichten letzten Band der Tagebücher von Michael Rutschky ist Hardtwig "die Wut auf einen Professor Hardtwig" zur Kenntnis gebracht worden, die Rutschky fixierte, als Hardtwig ihn brieflich bat, einen Vortrag über Egon Friedell für den Druck mit Anmerkungen zu vervollständigen. Hardtwig lässt sich von dem Tagebucheintrag wohl vor allem deshalb irritieren, weil er nie ein Professor wie andere sein wollte.
Höhnisch postulierte Rutschky: "An der Wissenschaft teilzunehmen heißt, einen Text mit Fußnoten versehen, auch wenn er keine braucht." Wolfgang Hardtwigs Buch "In der Geschichte" hätte vielleicht doch Fußnoten gebraucht. Erstaunlich sind die faktischen Fehler, insbesondere bei Biographien, angefangen mit dem SS-Dienstgrad von Jauß. Nipperdey, Jahrgang 1927, konnte nicht "in Köln hauptsächlich bei Nikolai Hartmann Philosophie" studieren, weil Hartmann 1931 aus Köln weggegangen war, und Dorothee Sölle war nicht Nipperdeys Halbschwester, sondern eine vollbürtige Schwester. Völlig falsch sind die Angaben zu den Qualifikationsschriften von Hermann Lübbe. In solcher Nonchalance gegenüber Tatsachen und Belegen bricht eine Neigung zum Antiakademischen durch, die Hardtwig doch gar nicht verdrängt hat, sondern in seinen Forschungen zur populären Geschichtsschreibung produktiv machte. PATRICK BAHNERS
Wolfgang Hardtwig: "In der Geschichte". Historiker in West und Ost 1964-2024.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2024.
412 S., Abb., geb.
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