Alessandro Bariccos ¿Novecento¿ hat mir so gut gefallen, dass ich dachte, ich müsse unbedingt ein weiteres Werk von ihm inhalieren. Doch Oceano Mare zu lesen, ist wie ein abstraktes Gemälde zu betrachten. Ab und zu erkennt man etwas, aber meist sieht man nur unterschiedliche Farben und Linien, die kaum Sinn ergeben ¿ aber doch auf den Betrachter wirken und seine Gefühle ansprechen.In den ersten Kapiteln lernen wir Leser die Bewohner der Pension Almayer irgendwo am Meer kennen. Da gibt es Plasson, den Maler, der früher Portraits malte und nun versucht, das Meer auf die Leinwand zu bannen. Ann Deveriá ist von ihrem Mann in die Pension geschickt worden, um möglichst weit von ihrem Liebhaber fort zu sein. Der Wissenschaftler Bartleboom bemüht sich, die Grenzen des Meeres zu finden, um seine Enzyklopädie der Grenzen zu vervollständigen. Pater Pluche hat von Elisewins Vater die Aufgabe bekommen, das lebensmüde Mädchen zu einer heilenden Stätte zu begleiten...Als Leser wird man mit einer enormen Fabulierkunst von den Wellen in eine fremde, unwirkliche, aber zumindest zu Beginn harmonische Welt mitgenommen.Seite 100:¿Weißt du, was schön ist hier? Schau: wir gehen und lassen alle diese Abdrücke im Sand zurück, und sie bleiben bestehen, ganz deutlich und ordentlich. Aber wenn du morgen aufstehst, wirst du auf diesen großen Strand schauen, und nichts wird mehr da sein, kein Abdruck, dein anderes Zeichen, gar nichts. Das Meer löscht alles aus in der Nacht. Die Flut versteckt alles.¿Im zweiten Buch erleben wir Menschen in Seenot. Dieser Teil hätte mich wegen der Grausamkeiten beinahe aufgeben lassen. Was allerdings schade gewesen wäre, denn im dritten Buch erfuhr ich, was aus den einzelnen Pensionsbewohnern geworden ist. Und das entwickelte bei mir einen eigenartigen Sog ¿ wie das Meer manchmal auch.Wer sich von einem Buch vor allem Handlung erwartet, sollte liebe die Finger davon lassen. Wer aber bereit ist, in Gefühle und Gedanken einzutauchen, könnte an diesem Märchen vom Wesen des Meeres Gefallen finden.