Besprechung vom 19.07.2024
Ich wollt', ich wär ein Hunne
Nicht ohne moralisches Dilemma: Anja Dreschke hat Kölner Vereine begleitet, die sich an der Nachahmung fremder Kulturen und historischer Lebenswelten versuchen.
Verirrt man sich in den sonnigen Monaten in das Brachland eines der Kölner Außenbezirke, mag man sich in eine fremde Welt versetzt fühlen, die irgendwie dem Karneval ähnelt und doch ganz anders ist. Dort kampieren nämlich jedes Jahr für einige Wochen die sogenannten "Kölner Stämme", Vereine, die sich die Gepflogenheiten fremder Kulturen aneignen wollen, um sie in einem Reenactment möglichst realistisch zu verkörpern. Man kann dort etwa Wikinger, Römer, Goten oder Ritter antreffen, die ihre Kostüme und die Einrichtung ihrer Wohnstätten aufwendig zusammengetragen haben.
Während der Zeit des "Campings in Kostümen" versuchen die Leute ihre Rollen so perfekt zu spielen, dass sie, zumindest unter den wachsamen Augen der Besucher, auf Errungenschaften der modernen Technik verzichten, schließlich hatten die Römer oder Hunnen auch keine Smartphones und Plastikstühle. Die Anthropologin Anja Dreschke hat einige dieser Stämme über einen längeren Zeitraum begleitet und einen Film gedreht, der 2011 Premiere hatte. Diesen Film wiederum hat sie nun zur Grundlage einer fast fünfhundertseitigen und mit zahlreichen Bildern illustrierten "Medienethnografie" gemacht.
"Wie nähert man sich", so die Ausgangsfrage, "als Ethnographin Mitgliedern der 'eigenen' Gesellschaft, die 'so tun, als ob' sie Angehörige einer 'fremden' Gesellschaft wären?" Die Anführungszeichen sind hier Programm, gibt es doch in dieser Welt "Hunnen" und Hunnen, "Mongolen" und Mongolen - und das mitunter in regem Austausch, da einige der Mitglieder der Stämme enge Beziehungen zur Kultur ihrer Performanz gewordenen Träume aufgebaut haben.
So besuchen zuweilen Menschen aus der Mongolei ihre hiesigen Kopien, haben sich mit ihnen nicht selten angefreundet und stehen keineswegs befremdet vor der aufwendigen Inszenierung. Keine Frage, es handelt sich um kulturelle Aneignung, um deren moralisches Dilemma auch die deutschen "Mongolen" wissen. Ihr Spiel betreiben sie gleichwohl mit großer Ernsthaftigkeit, es schließt schamanistische Praktiken mit ein, Hochzeiten werden gefeiert, und Beteiligte bekommen bei der Aufnahme in den neuen kulturellen Kreis mitunter einen eigens ausgewählten Namen zugewiesen.
Die neugierigen, an der Inszenierung nicht beteiligten Hochzeitsgäste wissen allerdings nicht, ob nun der Sprechakt der Schamanin Gültigkeit besitzt, ob sie also einer echten Trauung beigewohnt haben - oder ob das Ganze doch nur ein Spektakel wie in einem Freilichtmuseum gewesen ist. Die Zuschauer werden versetzt in eine Praxis der "Living History", die vor allem mit ästhetischen Kategorien operiert und die vermeintliche Authentizität der Darstellung nicht zuletzt aus Filmen bezieht. Douglas Sirks "Attila, der Hunnenkönig" aus dem Jahr 1954 ist so etwa für die Kölner Hunnen-Horde Quell der Inspiration und zugleich Erweckungserlebnis der Gründer der ersten Vereine.
Wie lässt sich nun aber die Fülle dieser Aspekte angemessen beschreiben? Dreschkes Buch, das vierzig Szenen ihres Films als Ordnungsprinzip nimmt, operiert mit einem doppelten Fokus: Auf der einen Seite unternimmt es eine "dichte audiovisuelle und textliche Beschreibung" ihres ethnographischen Gegenstands, auf der anderen Seite eine ungleich dichtere "thick description" des Theoriesettings der Anthropologie. Während die "Kölner Stämme" im Film weitgehend unkommentiert gezeigt werden, treten sie im Buch zurück und überlassen das Spielfeld den prominenten Figuren der Theorie. Die Hunnen und Mongolen bleiben nun eigentümlich blass, die in Anschlag gebrachten Theorien hingegen werden nacheinander aufgerufen. Gregory Bateson, Heike Behrend und Franz Boas, Clifford Geertz und Erving Goffman, Johan Huizinga und Michael Taussig sind nur einige von ihnen.
Die "thick description" funktioniert wie ein Medium, das etwas zu sehen gibt, aber zugleich auch sagt, wie es gelesen werden soll. Daher liest sich Dreschkes Buch wie eine Regelkunde der anthropologischen Beschreibung, die bestimmte Beobachtungen fast reflexartig mit bestimmten Theorien zusammenführt. Für den Leser verschiebt sich der Blick mithin von den Kölner Hunnenhorden hin zur Anthropologie. BERND STIEGLER
Anja Dreschke: "Kölner Stämme". Mimesis und Fremderfahrung. Eine Medienethnografie.
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2024.
480 S., Abb., br.
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