Besprechung vom 03.03.2020
Im Kreißsaal wird mitgezittert
Erziehen kongolesische Jäger anders als Anwälte in Boston? Anna Machin erzählt die komplizierte Geschichte der Vaterschaft quer durch die Kulturen.
Anhänger des sozialen Konstruktivismus wie des biologischen Determinismus werden an diesem Buch wenig Freude haben. Gene, so schreibt die Anthropologin Anna Machin, seien für die Entwicklung eines Menschen wesentlich, und doch mache am Ende die Mischung aus Erbgut und Erfahrung das Kind. Eines aber zeigen etliche Studien: Gleich, ob es sich um industrialisierte oder bäuerliche Gesellschaften, um liberale oder traditionelle Familienmodelle, um biologische oder soziale Väter handelt - die Rolle des menschlichen Papas ist einmalig, und bei keiner anderen Spezies ist ihre Wirkung so entscheidend.
Das "Vatersein", so die in Oxford lehrende Autorin, sei "ein Verhalten, ohne das es unsere Art schlichtweg nicht mehr geben würde". Während sich das hilflose Neugeborene der Mutter für die Nahrung zuwendet, sorgt der Papa für den Nestbau. Um das zu gewährleisten, greift die Biologie ein: Bei Vätern sinkt der Testosteronspiegel, was ihnen hilft, angemessen auf Emotionen zu reagieren. Das Persönlichkeitsmerkmal Extraversion, welches Männer nach Belohnung Ausschau halten lässt, nimmt ab; die Hormone synchronisieren sich mit denen der Partnerin. Die Kehrseite: Väter können an einer eigenen Art der Wochenbettdepression erkranken, vor allem wenn ihnen Unterstützung fehlt.
Vor etwa fünfhunderttausend Jahren haben Väter in ihre Rolle als Kümmerer gefunden. Damit sich der weibliche Homo Heidelbergensis den verletzlichen, aufgrund ihrer großen Gehirne und Köpfe frühgeborenen Säuglingen widmen konnte, umsorgte der Mann die Kleinkinder. Von dort zieht Machin eine historische Linie zu den Vätern, die heute im Kreißsaal mitzittern. Ein Meilenstein für die vorgeburtliche Vaterliebe war der Ultraschall, der es Männern ermöglichte, die Schwangerschaft auf neue Art mitzuerleben.
Die Vaterrolle ist allerdings recht flexibel. Die Autorin stellt neben klassischen auch homosexuelle, soziale oder kollektive Vaterschaftsmodelle vor, die jeweils ihre eigenen Dynamiken entwickeln, um mit dem Kind das von der Evolution angestrebte Überleben der Gene zu sichern. Das klingt wie eine unabänderliche Bestimmung, doch tatsächlich sollte das Gen die Rechnung nicht ohne das Wirtstier machen. "Denn es bleibt immer ein unbekanntes Element: der individuelle Wille, etwas zu ändern, wenn es nötig ist, und daran zu arbeiten, als Elternteil so zu sein, wie man sein möchte, ungeachtet all dessen, was das Leben oder die Biologie einem mitgegeben haben."
Machin zielt darauf, auch Laien an der neuesten Forschung teilhaben zu lassen. Das gelingt über weite Strecken. Komplexe Zusammenspiele der Hirnareale und der neurochemischen Botenstoffe, insbesondere jenes der für die Bindung zuständigen Hormone Dopamin und Oxytocin, sind nachvollziehbar erklärt. Die zitierten Studien zur besonderen Funktion des Vaters beziehen sich auf so verschiedene Gemeinschaften wie hohe indische Kasten, kongolesische Jäger und Sammler und Wirtschaftsanwälte aus Boston. Banal sind dagegen die in den Erzählfluss eingeflochtenen Einlassungen von Vätern, die Machin interviewt hat: Sie wollen Zeit mit ihren Kindern verbringen und sie bestmöglich auf die Zukunft vorbereiten, und doch fühlen sie sich manchmal wie das fünfte Rad am Wagen.
Insgesamt hätte dem Buch eine gründlichere Redaktion gutgetan, denn die nuancierten Kernaussagen verstecken sich gerne zwischen wiederkehrenden Binsenweisheiten. In der deutschen Fassung ist zudem das englische Grundrauschen des Texts ermüdend. Zwar geben Sätze wie "Okay, machen wir die Dinge noch ein bisschen komplizierter, einfach so" den angloamerikanischen Plauderton wieder (im Original: "Okay, let's complicate matters, just for fun"). Auf Deutsch wird aus diesem Stil jedoch saloppes Schwatzen.
Es ist Machins erklärte Mission, die "involvierten Väter" zu stärken und ihren Beitrag zu würdigen, da eine moderne, zugleich aber altmodisch denkende Gesellschaft ihnen Unterstützung verwehre. Die rundum medikalisierte Geburt verbanne den Vater in ein "Niemandsland zwischen Patient sein und Besucher sein". Sein Leiden, bis zur Traumatisierung durch eine schwierige Geburt, werde kleingeredet. Vaterschutz und Vaterschaftsurlaub blieben global seltene Phänomene. Dabei sind Vater-, Kinds- und Menschheitswohl eng verwoben: Je sicherer die Bindung an den Vater, desto weniger ist der Sprössling gefährdet, kriminell, suchtkrank oder depressiv zu werden: "Die Vater-Kind-Beziehung ist die Quelle der Individualität und Autonomie und letztlich des Erfolges." "Vater" meint dabei nicht notwendigerweise den Erzeuger und noch nicht mal unbedingt einen Mann, sondern jene Person, die bereit ist, die Vaterrolle anzunehmen.
Doch die politische Stoßrichtung bleibt nicht ohne innere Widersprüche. Ihre Gegenspieler verortet Machin ausschließlich "weiter oben in der Kette, in Regierungen und Gesellschaften, die sich wegen ihrer eingefleischten kulturellen Überzeugungen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem lauter werdenden Ruf nach Wandel versperren". Sind Väter und Mütter nicht Teil der Gesellschaft und Träger der Kultur? Zudem erweist sich die progressive Haltung als verblüffend traditionell: Am besten für das Kind sind die Eltern. Deren Zeit mit dem Nachwuchs sollte sich idealerweise wenig gestört von der Arbeit (aber nicht ganz ohne deren materielle Vorteile) vollziehen - ein wohl nur in gutsituierten westlichen Oberschichten umsetzbarer Traum, dessen diffuser zivilisations- und kapitalismuskritischer Unterton nicht zu leugnen ist. So zeichnet sich im Hohelied auf den Vater jene Idealisierung ab, die bei Müttern als Ursprung vielen Übels gilt.
KERSTIN MARIA PAHL
Anna Machin: "Papa
werden". Die Entstehung des modernen Vaters.
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Enrico
Heinemann. Antje Kunstmann Verlag, München 2020. 270 S., geb.
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