Besprechung vom 20.07.2022
Er war der Tod für sie
Sex, Zeit und Revolte: Annie Ernaux sinniert in ihrem jüngsten Buch über einen jungen Liebhaber, und ganz Frankreich liest mit.
Dieser kurze Text hat eine lange Inkubationszeit hinter sich. Die Leser von "Das Ereignis" über Annie Ernaux' heimliche Abtreibung, das im vergangenen Herbst auf Deutsch erschien und dessen Verfilmung kürzlich in die Kinos kam, haben zumindest eine Ahnung von dieser neuen Geschichte, von der in der älteren bereits andeutungsweise die Rede war. Auch in ihren Aufzeichnungen ("Atelier noir") hat Ernaux von einem im Entstehen begriffenen Werk gesprochen: "Das Problem besteht immer darin, eine Form zu finden, die es ermöglicht, das Ungedachte zu denken." Jetzt ist das so angekündigte Buch in Frankreich erschienen: "Le jeune homme". Annie Ernaux erzählt die Geschichte ihrer Liebschaft mit einem fast dreißig Jahre jüngeren Studenten.
A., so nennt sie ihn, wurde 1964 geboren: im Jahr ihres Schwangerschaftsabbruchs. Kreise schließen und öffnen sich in dieser Liebesgeschichte. Die Mutter von Ernaux war mit ihr schwanger, als sie 1940 auf dem Fahrrad vor den Deutschen flüchtete. Als Mutter und Tochter 1944 nach Yvetot zurückkehrten, war ihr Heimatort ein zweites Mal zerstört worden, diesmal von amerikanischen Bomben. In seinen Ruinen und der beengenden Épicerie der Eltern wuchs Annie Ernaux auf.
Sie war vierundfünfzig, als ihre Affäre mit A. begann. Mit ihm kehrte sie zurück in die materielle Armut ihrer Herkunft und Jugend, die sie dadurch nochmals durchlebte. Sie spricht von einer unverhofften "Wiederholung", die A. ihr damit eröffnete: "Er verkörperte die Erinnerung an meine erste Welt."
In Rouen, der Stadt Flauberts, dem A. ähnlich sieht, besucht das Paar die Cafés, die Ernaux aus ihrer Studentenzeit kennt. Sie lieben sich auf einer Matratze am Boden und lesen die unsterblichen Liebesgeschichten, in denen die Frau älter ist als der Mann: Stendhals "Le Rouge et le Noir", Colette. Er will ein Kind von ihr. "Man konnte unsere Beziehung unter dem Aspekt des Profits betrachten", sinniert sie: "Er gab mir die Lust und ließ mich Stationen meines Lebens nochmals erleben." Jetzt ist sie die gut situierte "bourge". Dank ihres Geldes muss er zur Finanzierung seines Studiums nicht nebenbei arbeiten. Sie offeriert ihm Reisen. Auf Capri stellt sie ihm angesichts der vielen schönen Frauen die Frage nach der Jugend. Er lacht sie aus, sie stimmt ein. Nie, schwärmt Annie Ernaux, sei sie von einem Geliebten so begehrt worden wie von ihm. Ein Jahr lange hatte A. der Schriftstellerin Briefe geschrieben. Bei der ersten Begegnung gingen sie gleich miteinander ins Bett, ein Jahr währte ihr Verhältnis.
"Oft machte ich Liebe, um mich zum Schreiben zu zwingen", lautet der zweite Satz der Erzählung. Die Schriftstellerin Ernaux brauchte das Gefühl, dass keine Lust intensiver ist als das Schreiben. Im Zustand der Müdigkeit und Resignation nach dem Akt stellte es sich ein. Die Sexualität ist für die Schriftstellerin eine Möglichkeit, "Dinge zu entdecken, die man ignorierte: über sich, über die Welt". Entstanden ist nun ein Text, in dem sie sich selbst genauso radikal in Frage stellt wie die Konventionen der Gesellschaft und den Kapitalismus, gegen die sie sich auflehnt. Den Weg der Emanzipation aus der Épicerie bis zur Revolte hatte sie schon zuvor in ihren Büchern beschrieben, vor allem "Die Jahre" sind als großartiges Porträt der Epoche zum Kultbuch geworden.
Von der neuen Erzählung "Le jeune homme" sagte Ernaux in einem Interview überflüssigerweise, sie sei ausschließlich der "Wahrheit und Wirklichkeit" verpflichtet. Das ist ihr gesamtes Werk. Das "Undenkbare" der Affäre, die sie erzählt, erschließt sie mit ihrem analytischen Blick auf die Handlung und dem gleichzeitigen Rückgriff auf poetische Bilder, die ihr eine fast religiöse Dimension vermitteln: "Sex, Zeit und Erinnern vermischten sich. Auf vage Weise betrachtete ich A. wie den jungen Mann in Pasolinis Film 'Teorema'", der mit allen schläft. Er erscheint ihr als "eine Art Erzengel Gabriel", der bekanntlich die Visionen aufschlüsselt.
In der Tat: "Le jeune homme" ist keineswegs die späte und enthemmte Erzählung einer heute achtzigjährigen Schriftstellerin auf der Suche nach der verlorenen Jugend und Sexualität. Sie erweist sich als Schlüssel zu ihrem autobiographischen Schreiben und Werk, das sich in diesem kurzen Text spiegelt. Dem Käufer wird der beglückende Eindruck vermittelt, dass er persönlich der verehrten Dichterin ein anständiges Seitenhonorar bezahlt. Sehr, sehr locker sind die gerade einmal 26 bedruckten Seiten gestaltet, in zwanzig Minuten hat man das Bändchen aus der prestigeträchtigsten Reihe des Verlags Gallimard gelesen. Acht Euro kostet es und ist zusammen mit Célines "Guerre" (Krieg) der literarische Sommerbestseller des Jahres in Frankreich. Die Schwelle der hunderttausend verkauften Exemplare ist bereits überschritten.
Zeitweise nicht lieferbar war das im Mai erschienene "Cahiers de l'Herne" über Annie Ernaux, das mit einer Auflage von mehr als 10 000 Rekorde für Zeitschriften gebrochen hat. Nur fünf Schriftstellern hat diese renommierte Literaturzeitschrift bislang die Ehre eines Hefts zu Lebzeiten erwiesen, unter ihnen der Nobelpreisträger Patrick Modiano, der Frankreichs Vergangenheit erforscht, und Michel Houellebecq, der die Gegenwart des Landes beschreibt wie kein anderer. Annie Ernaux ist im Begriff, mit ihrer persönlichen, ja intimen und politischen Literatur - des Erinnerns und mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung - Modiano und Houellebecq (den die Frauen nicht mögen) als emblematische literarische Stimme der Nation abzulösen. Bei der Präsidentschaftswahl engagierte sie sich für Jean-Luc Mélenchon und schrieb den Aufruf "Die Geschichte klopft an die Tür". Von Präsident Macron sagt sie: "Das Beste an ihm ist das Alter seiner Frau."
Bei den Filmfestspielen von Cannes wurde der Film "Les années super 8" gezeigt. David Ernaux, der Sohn der Schriftstellerin, hat dafür zusammen mit seiner Mutter Szenen aus den Familienschmalfilmen montiert. Sie dokumentieren den Ferienalltag der Siebzigerjahre und das Scheitern einer Ehe. Das waren eher unbeschwerte Jahre unter Präsident Giscard d'Estaing, dessen Ministerin Simone Veil den Schwangerschaftsabbruch entkriminalisierte.
Giscards Wahl zum Präsidenten ist auch die am weitesten zurückliegende Erinnerung von Annie Ernaux' jungem Liebhaber in "Le jeune homme". Ihr schier "endloses" Erinnern zuvor gemahnt sie an A.s Erinnern danach. "Seine Existenz war mein Tod", stellt sie fest: "So wie es meine Söhne waren und wie ich es für meine Mutter war, die den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr erlebte, sich aber an das Geläute der Glocken im ganzen Land am 11. November 1918 erinnerte."
Deutschsprachigen Lesern darf man wünschen, dass die Übersetzung von "Le jeune homme" nicht wie die von "Das Ereignis" erst zwanzig Jahre nach der Originalausgabe erscheinen wird. "Wenn ich sie nicht aufschreibe", stellt Annie Ernaux als Erkenntnis ihrem kleinen Meisterwerk voran, "sind die Dinge nicht bis zu ihrem Ende gekommen, sie wurden nur gelebt." JÜRG ALTWEGG
Annie Ernaux: "Le jeune homme".
Gallimard, Paris 2022. 48 S., br.
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