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Besprechung vom 27.12.2023
In Haltung erschöpft
Deutschland zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Carlo Masala, Sebastian Ullrich und Matthias Hansl halten der "Zeitenwende" den Spiegel vor.
Ein Gespräch über Sicherheitspolitik? In Deutschland über Deutschland? Daran mangelt es nun wirklich nicht mehr - zumindest nicht seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ist nicht bereits alles gesagt? Bis zur Erschöpfung? Und genau hier liegt das Problem: In Deutschland erschöpft man sich gerne im Reden, Debattieren, Diskutieren. Genügend Kraft für die daraus abzuleitende Tat - nachhaltig und wirkungsvoll - bleibt dann oft kaum noch. Aber das scheint so manchen auch gar nicht zu stören. Schließlich hat man "Haltung" gezeigt - die neue Königsdisziplin im Land der Dichter und Denker.
Warum also dennoch ein Buch lesen, das genau in dieser Tradition zu stehen scheint? Ebenso wie sein Protagonist: ein Professor, ein Kommentator, ein Gast in Talkshows. In seinem neuen Buch - einem Gesprächsbuch - befragt vom Cheflektor und einem Programmleiter des Verlags? Weil dem Trio Carlo Masala, Sebastian Ullrich und Matthias Hansl etwas gelingt, das dann doch überaus lesenswert erscheint: die Zuspitzung ihrer Thematik, der Spiegelung von Anspruch und Wirklichkeit der in Deutschland ausgerufenen "Zeitenwende".
Da ist beispielsweise die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz, sein Land wolle die stärkste konventionelle europäische Streitmacht innerhalb der NATO werden. Hier stellt Masala nüchtern fest, dass die Entwicklung allerdings eher darauf hindeute, dass Polen auf lange Sicht die stärkste nicht nukleare europäische Macht im Nordatlantischen Verteidigungsbündnis sein werde. Denn im Gegensatz zu Berlin rüstet Warschau bei konventionellen Waffensystemen massiv auf, vor allem im Bereich Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Hier wird in großem Stil amerikanisches und südkoreanisches Kriegsgerät eingekauft. Die militärische Logik dahinter: Während die Bundesrepublik als Frontstaat im alten Kalten Krieg einen Großteil der konventionellen Panzertruppen für die NATO gestellt hatte, sieht sich Polen heute im neuen Kalten Krieg in dieser Rolle.
Wohltuend erscheint auch die Einordnung der Verwendung des "Sondervermögens" - in Wahrheit "Sonderschulden" - von einhundert Milliarden Euro für die Bundeswehr - von Kritikern als "Aufrüstung" bezeichnet. Dem stellt Masala zu Recht den Begriff "Ausrüstung" entgegen, da Deutschland dem Nordatlantischen Bündnis in den vergangenen Jahren Kapazitäten im hohen zweistelligen Milliardenbereich versprochen habe, ohne sie zu beschaffen. Der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr leitet daraus treffend ab, dass sein Dienstherr nun lediglich die Mittel erhalte, die Berlin den Bündnispartnern bereits zugesagt habe: "Mit Aufrüstung hat das nichts zu tun, sondern es handelt sich nur um die überfällige Ausrüstung der Truppe, deren Kapazitäten man bislang bloß vorgegaukelt hat."
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Verfassungsgerichtsurteils zum Bundeshaushalt lässt aufhorchen, was Masala zu Struktur und Zukunft des Verteidigungsetats sagt - gegenwärtig immerhin der siebtgrößte weltweit. Hier stellt sich in der Tat immer drängender die Frage, warum ein Budget von rund fünfzig Milliarden Euro bislang nicht ausreicht, um das für die deutschen Streitkräfte notwendige Material vorzuhalten. Masalas Erklärung: Achtzig Prozent des Budgets sind durch Personal- und Materialerhaltungskosten gebunden. Entsprechend wenig bleibt für Rüstungsbeschaffung, Forschung und Entwicklung übrig.
Eine spürbare Entlastung könnte hier die Verlegung der Pensionszahlungen von heute bereits sechseinhalb Milliarden Euro aus dem Verteidigungsetat in andere Haushalte bringen - ein Posten, der in den kommenden Jahren weiter steigen wird, ohne die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu erhöhen. Eine andere Möglichkeit könnte die Steigerung des Bundeswehretats um etwa 15 Milliarden Euro sein. Doch beides hält Masala gesellschaftlich für nicht durchsetzbar. Allerdings wird sich auch nach seiner Prognose die Frage nach einer substanziellen Erhöhung erneut stellen, wenn das "Sondervermögen" der Bundeswehr aufgebraucht sein wird - zumal sich die Bundesrepublik dazu verpflichtet habe, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aufzuwenden, und der jüngste NATO-Gipfel in Vilnius diesen Wert nunmehr als Minimalziel für seine Mitglieder definiert habe.
Zum Kern der Misere in der deutschen Verteidigungspolitik stößt das Trio Masala, Ullrich, Hansl vor, wenn es nach der Ursache für die "skurrile Dysfunktionalität" in der Rüstungsbeschaffung der Bundeswehr fragt. Hier zitiert Masala seinen Kollegen Sönke Neitzel: Der Potsdamer Militärhistoriker hat als zentrales Problem des Rüstungsbeschaffungsprozesses erkannt, dass dieser nach dem Ende des alten Kalten Krieges zunehmend nicht mehr auf den Bedarf der Truppe und auf schnelle Zuführung des Materials ausgerichtet war, da es nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr darauf ankam, ob ein Panzer zehn Jahre zu spät eintraf und dreißig oder vierzig Prozent mehr kostete, denn man habe ihn ja nicht einsetzen oder gegebenenfalls schnell ersetzen müssen. Doch spätestens 2014 mit Russlands Annexion der Krim und Moskaus Krieg gegen Kiew in der Ostukraine - die meisten hätten es aber erst mit Putins Angriffskrieg ab Ende Februar 2022 begriffen - habe sich die Lage fundamental verändert. Nun sei man ein weiteres Mal mit einem veritablen Gegner konfrontiert, worauf aber das gegenwärtige Beschaffungswesen nicht im Geringsten ausgelegt sei.
Doch was braucht man eigentlich für den Krieg der Zukunft? Masala arbeitet unter anderem die wichtige Rolle der Drohne klar heraus und beklagt dabei, dass unbemannte Systeme, ob zur Aufklärung oder bewaffnet, bislang eine viel zu geringe Rolle bei der Ausrüstung der Bundeswehr spielen. Dabei hat bereits der jüngste zwischenstaatliche Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien den Einfluss der Drohne auf den Kriegsverlauf verdeutlicht: Die Armenier unterlagen auf dem Schlachtfeld nicht zuletzt deshalb, weil sie über keine Luftverteidigung für ihre Panzerverbände verfügten. Auch im bisherigen Kriegsgeschehen in der Ukraine erkennt Masala, dass es dort weniger um die Rückkehr des Panzers als um die Renaissance der Artillerie geht. Zwar benötige man Panzerspitzen, um Durchbrüche zu erzielen. Aber ansonsten seien der Schutz der Panzer und die Artillerie wichtiger.
Deutschland mangelt es nicht nur hier an der notwendigen Hardware. "Zeitenwende" bedeutet auch für Masala weit mehr als einhundert Milliarden zusätzlich für die Bundeswehr oder die Erhöhung des Verteidigungsetats auf zwei Prozent des BIPs. "Zeitenwende" bedeutet für ihn zuvorderst, dass Strukturen, Verfahren und Prozesse in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik krisenfähig und handlungsfähig gemacht werden. Wie weit Berlin davon noch entfernt ist, zeigt ihm die Nationale Sicherheitsstrategie, über die er urteilt: "Am großen Ziel vorbei." Zwar enthalte sie eine zutreffende Analyse der Herausforderungen für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik. Sie bleibe aber dort stehen, wo es eigentlich hätte interessant werden können - bei der Frage, was aus dieser Bedrohungsanalyse für die Strukturen und Prozesse folgt, in und mit denen Außen- und Sicherheitspolitik in Deutschland betrieben wird. Also erneut weitgehende Erschöpfung im Reden, Debattieren, Diskutieren. Und weiterhin zu wenig Kraft für die nachhaltige und wirkungsvolle Tat. THOMAS SPECKMANN
Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende. Ein Gespräch mit Sebastian Ullrich und Matthias Hansl.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 207 S.
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