Der gealterte David Copperfield blickt zurück auf die ersten 25 Jahre seines Lebens: Ungeliebt und unerwünscht von Mutter und Stiefvater, beschließt der einfallsreiche junge Mann schließlich, eine bessere Zukunft für sich zu schaffen.
Besprechung vom 30.11.2024
Leg dich nicht mit Betsy Trotwood an!
Das Drama des misshandelten Kindes: Charles Dickens' bekanntester Roman erzählt von einem Jungen, dem Unrecht geschieht. Nun liegt "David Copperfield" in einer Neuübersetzung von Melanie Walz vor. Und offenbart dort aufs Schönste seine unsentimentale Seite.
Von Tilman Spreckelsen
Von Tilman Spreckelsen
Wie die Beschäftigung mit dem Werk von Charles Dickens für den einen zum Elysium und im selben Moment für den anderen zur Folter werden kann, schildert der englische Autor Evelyn Waugh in seiner Erzählung: "Der Mann, der Dickens mochte", die 1933 erschien, zwei Generationen nach dem Tod des Klassikers. Darin verschlägt es einen englischen Abenteurer in ein Dorf im südamerikanischen Regenwald, wo er gefangen gehalten wird, um dem Anführer, der selbst nicht lesen kann, Dickens' gesammelte Werke aus einer Bücherkiste vorzutragen, die seltsamerweise bis in dieses Dorf gelangt ist. Beide, der Dorfchef und der Brite, werden sich in den folgenden Jahrzehnten gedanklich im viktorianischen London aufhalten und die Schicksale von armen Waisen wie Nell, Oliver Twist oder Pip begleiten, sie werden die humoristischen Reisen der Pickwickier verfolgen oder den Zynismus des Geizkragens Scrooge in schiere Menschenfreundlichkeit verwandelt sehen. Mit der Welt des Vorlesers, dem London der Zwanziger- und Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, hat das kaum noch zu tun, mit der des Zuhörers ohnehin nicht. Dieser aber mag von dem Dickens-Kosmos nicht mehr lassen, womöglich gerade wegen dessen vollständiger Fremdheit. Und zwingt deshalb seinen Gefangenen, sich gemeinsam mit ihm dort einzunisten.
Was Waugh beschreibt, die ungeheure Anziehung, die von Romanen wie "Große Erwartungen", "Bleakhouse" oder "Klein Dorrit" bis heute auf manche Leser ausgeht, ist unermüdlich analysiert worden. Was hat Dickens, das seine schreibenden Zeitgenossen nicht haben? In einem Aufsatz für das "TLS" hat die Literaturwissenschaftlerin Ana Alicia Garza kürzlich auf eine Strategie Dickens' hingewiesen, die darauf abzielt, in seinen Texten die schreienden sozialen Missstände seiner Umgebung darzustellen, zugleich aber seine Leser so gut zu unterhalten, dass sie überhaupt von dieser Darstellung erreicht werden. Die Spuren dieser Strategie nimmt man noch immer wahr, auch wenn die soziale Misere der Dickens-Zeit inzwischen einem neuen Elend gewichen ist und dafür das Plaudern, die forcierte Behaglichkeit und die Sentimentalität mancher seiner Romanpassagen umso sichtbarer geworden ist.
Das gilt auch für "David Copperfield", eines von Dickens' allerberühmtesten Werken, das nun in neuer deutscher Übersetzung von Melanie Walz erschienen ist. Ursprünglich publizierte Dickens es 1848/49 in neunzehn Folgen, also der Veröffentlichungspraxis dieser Zeit entsprechend zunächst in Periodika und dann als Buch. Dickens betrat aber Neuland, weil er aus der Ich-Perspektive erzählte, und das aus der Rückschau: David Copperfield, ein Mann in den besten Jahren, blickt auf sein Leben, das gezeichnet ist von teils grotesk schwierigen Ereignissen, die als Schicksalsschläge auf ihn niedergehen - der Vater stirbt schon vor der Geburt des Jungen, die Mutter heiratet den grausamen Murdstone, der ihr und dem Stiefsohn das Leben zur Hölle macht, und dergleichen mehr -, aber auch von glücklichen Fügungen: Als David zu Hause im Weg ist, verbringt das Kind einige Zeit bei der liebevollen Familie der Dienerin Peggotty, die ihm sein Leben lang verbunden sein wird. Im entsetzlichen Internat, in das ihn sein Stiefvater steckt, gewinnt er bleibende Freunde in zwei Mitschülern und einem Lehrer. Und als er aus der Schule genommen wird, um in einer Weinhandlung zu arbeiten, wohnt er als Untermieter bei der Familie des wunderlichen, großsprecherischen, aber herzensguten Micawber.
In all diesen Fällen bleibt es nicht bei einmaligen Begegnungen. Wer einmal Davids Weg kreuzt, tut dies immer wieder, und Dickens zeigt sich als ausgesprochen ökonomischer Dirigent eines großen Figurenensembles, in dem jeder seinen Auftritt bekommt, allein oder in wechselnden Zusammenstellungen. So hilft einer der früheren Schulfreunde am Ende in unverhoffter Koalition mit dem eigentlich schon abgeschriebenen Micawber, einen Schurken zur Strecke zu bringen, der in seinem Aufwärtsstreben fast wie Davids dunkler Zwilling erscheint, während ein anderer Freund ebenso unerwartet Davids Kinderliebe aus Peggottys Familie verführt und damit den Lebenstraum ihres Verlobten, des braven Seemanns Ham, zerstört, was dann zu einer finalen Begegnung dieser beiden führt.
All das hat durchaus etwas von einer Choreographie, die Auftritte etwas Inszeniertes, und Dickens liebt es ersichtlich, einzelnen Figuren komplementäre gegenüberzustellen, die mal direkt aufeinanderprallen wie der rabenschwarze Murdstone und die Lichtgestalt Betsy Trotwood (David Copperfields Großtante, die dem Sadisten die Stirn bietet) oder allein durch den Vergleich innerhalb des Romanganzen aufeinander bezogen sind wie die beiden Schulleiter Creakle und Strong, die zwei sehr unterschiedliche pädagogische Verfahren verkörpern - David wird nacheinander beide kennenlernen.
Für den Jungen, der bittere Ohnmachtserfahrungen durchleidet, sich einmal wehrt - er beißt in Murdstones Hand, unter dem heftigen Beifall seiner Leser - und dafür unverhältnismäßig büßen muss, stellen diese Figuren Helfer und Widersacher dar, denen er lange Zeit hilflos ausgeliefert ist, weil ebenjene Instanzen fehlen, die eigentlich an seiner Seite sein sollten: die Eltern. Und während er zunächst als ein Spielball erscheint, den niemand richtig ernst nimmt, bringt seine erste eigene Entscheidung die Wende. Er flieht aus der bedrückenden Abhängigkeit von seinem mittlerweile verwitweten Stiefvater hin zu Betsy Trotwood, einer von Dickens' verschrobensten und zugleich liebenswertesten Gestalten - den Grund ihrer Verschrobenheit liefert der Autor dann viel später nach. Zunächst aber geht es für David aufwärts, was Dickens nicht müde wird zu markieren. Selbstverständlich ist es die Hilfe Betsy Trotwoods, die ihn auf die Bahn zum gesellschaftlichen Erfolg bugsiert, aber es ist eben auch sein eigener Impuls, der dazu geführt hat. Das ist dem Autor wichtig.
Dass Dickens in diesem Roman eigene Erfahrungen in die Lebensgeschichte seines Helden einfließen lässt, konnten die zeitgenössischen Leser nicht wissen. Geahnt haben werden sie es. Im verbal und nonverbal über seine Verhältnisse lebenden Micawber hat man ein Porträt von Dickens' Vater vermutet. David selbst teilt mit seinem Schöpfer die Erfahrung, früh aus der Schule genommen und in eine Arbeitsstelle gesteckt worden zu sein, als Parlamentsstenograph gearbeitet zu haben und über die Juristerei schließlich zum freien Schriftsteller geworden zu sein. Die sichere Ruhe aber, die Copperfield im Moment der Niederschrift seiner Erinnerungen verströmt, hat im bewegten Leben seines Autors keine Entsprechung - Dickens steuerte auf seine Schicksalsjahre zu, persönlich und als Autor, der im ungemütlichen Roman "Bleakhouse" zu einem völlig anderen Schreiben finden sollte.
In der Konstruktion des Romans, der eine Lebensgeschichte im Moment der Erfüllung bilanziert, führt das zu einem schwierigen Verhältnis von Erleben und Zurückschauen - was weiß der Erzähler in jedem Kapitel jeweils? Naturgemäß doch alles, nur lässt er bewusst im Unklaren, was auch sein oft, im Grunde fast ständig betrogener Held in den jeweiligen Stationen seines Lebens noch nicht wissen kann, und schildert diese dreisten Übertölplungsversuche zugleich mit Ironie, aber auch mit Respekt vor der weltunerprobten Perspektive seines jüngeren Ichs.
Das findet seine Entsprechung in der geglückten Neuübersetzung des Romans durch Melanie Walz. Sie zeigt sich als Freundin klarer Worte, wachsam gegenüber jeder Behaglichkeit und immer mit Blick auf die gefährdete Situation der Titelfigur. Als die im 24. Kapitel des Romans einmal über die Stränge schlägt, gibt Walz mit offenbar großer Freude Davids trunkene Intonation wieder, und wo andere Übersetzer seine Selbstanklagen mit "töricht" (Meyrink) oder "verrückt" (Thanner) charakterisieren, wählt Walz für "stupid" das passende Wort "schwachsinnig". Ihre Übersetzung ist in der Regel geradeheraus und schnörkellos, was dann wiederum die Passagen, in denen der Erzähler allzu viel Gemüt offenbart, umso deutlicher hervorstechen lässt. Copperfield, das machen Dickens und Walz deutlich, ist an einem Punkt angelangt, an dem er sich nach all der Mühsal sicher fühlt, aber keineswegs sicher ist.
Mit "David Copperfield" zeigt sich der gerade 38 Jahre alte Dickens, verstrickt in tausend familiäre Bande und gesellschaftliche Aktivitäten, auf einem ersten Höhepunkt seines Schreibens. Dass er mühelos auf diese Weise hätte weitermachen können, ist offensichtlich. Dass er es nicht tat, bahnte ihm den Weg zum künstlerischen Triumph der späten Jahre.
Charles Dickens: "David Copperfield". Roman.
Aus dem Englischen von Melanie Walz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 1296 S., geb.
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