Besprechung vom 15.10.2024
Großer Sprung daneben
Der Club of Rome und das Wuppertal Institut weisen den Weg zu einer "Wohlergehensgesellschaft"
Dass nicht alles so weitergehen kann wie bisher, kann man spätestens seit 1972 wissen. Damals veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht über die "Grenzen des Wachstums". Weil noch immer nicht absehbar ist, dass die Menschheit sich an diese Grenzen halten mag und den Raubbau am Planeten endlich einstellt, hat der Club of Rome vor einigen Jahren die Initiative Earth4All gestartet, die nun einen Bericht herausgebracht hat, der sich dem kleinen deutschen Erdflecken widmet. Dort, schreibt das Autorenkollektiv, das Forscher des Wuppertal Instituts und Angehörige des Club of Rome bilden, sind einige Wenden notwendig.
Nicht nur dem Planeten zuliebe, sondern auch, um das Leid von Mitmenschen zu verringern, brauche es eine Armutswende, eine Ungleichheitswende, eine Empowermentwende ("Selbstwirksamkeit für alle"), eine Ernährungswende, eine Energiewende und zirkuläre Ökonomie (leider haben die Autoren es verpasst, hier die "Wegwerfwende" auszurufen).Das Ziel, um das es den Autoren geht, ist nicht eine klimaneutrale Wohlstandsgesellschaft, sondern "eine Wohlergehensgesellschaft", in der es weniger Ungleichheit geben soll als heute. Die Autoren behaupten, dass eine solche Gesellschaft "zu einem enormen Gewinn an Lebensqualität für alle" führen wird. Dafür braucht es allerdings "radikale Veränderungen", ja einen "großen Sprung nach vorne".
Auch nach Mao verwenden die Gesellschaftsumbautheoretiker diesen Begriff irritierenderweise ohne alle Scheu. Im Gegenteil: Er bezeichnet das Positivszenario, dem die Autoren ein "Too-little-too-late"-Szenario in allen Wendebereichen gegenüberstellen. Die Rede ist von einem Modell, mit dessen Hilfe die Forscher analysieren, wie Maßnahmen aus einem Wendebereich die Situation in einem anderen verändern, etwa wenn eine Steuer auf Emissionen den Lebensstil reicherer Menschen stärker verteuert als den ärmerer, die zudem durch ein Klimageld entlastet werden können.
Man würde gerne mehr über dieses Modell in diesem Buch erfahren, auch darüber, wie sehr politische Ziele enthalten sind. Leider sind die entsprechenden Beschreibungen dürr. Dafür kann man den Autoren nicht vorwerfen, ihre politischen Annahmen zu verbergen. Das Buch trägt den Untertitel "Aufbruch für alle". Aber die Autoren wissen, dass nicht alle ihre Umbauideen schätzen werden. Deshalb haben sie sich Gedanken gemacht, wie mehr Zustimmung für den "großen Sprung" gewonnen werden könnte.
Dabei sind die Autoren manchmal beinahe rührend naiv, etwa wenn vorgeschlagen wird, dass eine Enquetekommission des Bundestages mit dem eingängigen Titel "Sozialökologische Transformation zur Klimaneutralität und die Eigentumsverpflichtung gemäß GG Art. 14, Abs. 2" einen "Dialog eröffnen" soll, in dem Reiche erkennen, dass Eigentum verpflichtet, und deshalb gerne mehr zum Staatshaushalt beitragen.
Immer wieder unterbrechen die Autoren ihren Bericht für kleine Geschichten, wie es den Menschen in Deutschland 2045 gehen könnte - je nachdem, ob der "große Sprung" umgesetzt wird oder nicht. So lernt der Leser Jens Schmidt kennen. Im schlechten Szenario kann er sich kaum Äpfel leisten, lebt in einer überhitzten Welt und schikaniert als rassistischer Lohnsklave eines privaten Sicherheitsdienstes zwei Männer mit dunkler Haut. Im Positivszenario hingegen ist Jens Schmidt ein liebevoller Bastler, der im "Sustainability Center" Möbel restauriert und zwei hilflosen Dunkelhäutigen einen sicheren Schlafplatz vermittelt.
Statt solcher Märchen hätte man lieber erfahren, wer auf der Welt Teile der Wenden schon erfolgreich hinter sich gebracht hat und was Deutschland davon lernen kann. Stattdessen wird hier fortdauernd behauptet, dass alles mit allem zusammenhängt und sich ändern muss. Aber zum Glück kommt irgendwann noch eine Wende: die der letzten Seite. LUKAS FUHR
Club of Rome/ Wuppertal Institut (Hrsg.): Earth for All Deutschland. Aufbruch in eine Zukunft für Alle.
Oekom Verlag, München 2024. 280 S.
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