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Besprechung vom 18.06.2024
Gut gemeint ist nicht unbedingt gut
Verlieren wir alle an individueller Freiheit durch neue Gesetze? Frauke Rostalski stellt provokante Thesen auf
Alle lieben die Freiheit. Ob liberal, links oder konservativ: Sämtliche politische Gruppierungen behaupten von sich, im Namen der Freiheit zu handeln. Geht es nach der Strafrechtsprofessorin Frauke Rostalski, verdrängt aber Verletzlichkeit den Wert von individueller Freiheit in der öffentlichen Diskussion. Mehr noch: Unsere Gesellschaft habe sich zu einer vulnerablen entwickelt. Das heißt aus ihrer Sicht: Eine erhebliche Anzahl von Bürgern sieht sich selbst und andere als verletzlich an. Dieser Fokus auf Vulnerabilität dehne sich immer weiter aus - und damit auch der Einfluss des Staates, der durch Gesetze dem Individuum Risiken abnehme.
Die zentrale und zugleich provokante These, die Rostalski in ihrem Buch "Die vulnerable Gesellschaft" formuliert: Jeder Versuch, vulnerable Menschen durch Gesetze zu schützen, führt zu einem Freiheitsverlust aller Mitglieder der Gesellschaft - selbst unter jenen, die eigentlich geschützt werden sollen. Für sie gleicht der öffentliche Diskurs über Freiheit einem Nullsummenspiel. Wer für die Schwachen Schutz fordert, muss den Starken Freiheit nehmen - vorzugsweise über gesetzliche Einschränkungen.
Wer hier Rostalski postwendend vorwirft, jegliche staatliche Maßnahmen zu verteufeln und ein Recht des Stärkeren zu propagieren, liegt falsch. Sie wird nicht müde zu betonen, dass ihre These das Ergebnis einer beschreibenden Analyse ist. Aus ihrer Sicht kann es wie etwa im Sexualstrafrecht durchaus sinnvoll sein, vulnerable Menschen (in diesem Fall vor allem Frauen) zu schützen und dabei Einbußen der individuellen Freiheit (in diesem Fall vor allem von Männern) in Kauf zu nehmen. Ob Gesetze diesen Freiheitsverlust rechtfertigen, hängt Rostalski zufolge aber vom Einzelfall ab. Pauschale Antworten gebe es nicht. Ihr Appell: Wir sollten uns mögliche Freiheitsverluste stärker bewusst machen und offener darüber diskutieren, ob wir sie denn für richtig halten.
Aber wieso leidet unter staatlichen Maßnahmen überhaupt die individuelle Freiheit aller? Zunächst gehe Freiheit verloren, wenn Gesetze erlassen werden, die es vorher nicht gab. Denn dadurch entstehe zwangsläufig mehr Zwang. Was für Rostalski entscheidender ist: Verletzlichkeit habe einen negativen Einfluss auf die Autonomie von Menschen und deren Fähigkeit, sich in die Öffentlichkeit einzumischen. Sie leugnet keinesfalls, dass jeder von uns verletzlich, auf andere angewiesen ist und nicht alle Aufgaben des Lebens eigenverantwortlich meistern kann. Zugleich macht sie sich für individuelle Resilienz stark - also die Fähigkeit, mit den Herausforderungen des Lebens selbst klarzukommen.
Wovon sie überzeugt ist: Wenn der Staat Gesetze erlässt, wird dem Einzelnen die Chance genommen, individuelle Resilienz zu entwickeln und damit Selbstwirksamkeit zu erfahren. Individuelle Risikobewältigung entwickelt sich so zur kollektiven, so die Argumentation. Auf gegenteilige Meinungen zu treffen, Widersprüche auszuhalten und eigenverantwortlich Kompromisse oder Lösungen zu finden: Solche Erfahrungen der Selbstwirksamkeit sind aus der Sicht von Rostalski unabdingbar in einer demokratischen Gesellschaft, in der sich Bürger in die öffentliche Meinungsbildung einmischen sollen. Mit all der Wut, Enttäuschung und Angst, die mit öffentlichen Meinungsäußerungen einhergehen können.
Auch hier geht es ihr keinesfalls darum, dass wir alles allein meistern sollen. Rostalski meint: Individuelle Resilienz entwickeln Menschen etwa in einer Psychotherapie. Sie vertrauen sich einem Therapeuten zeitweise an, um danach eigenverantwortlich mit (negativen) Emotionen umgehen zu können. Wenn hingegen Gesetze Menschen davor schützen, überhaupt in brenzlige Situationen zu geraten, nimmt der Staat auch ihnen individuelle Problemlösungsmöglichkeiten.
Besonders deutlich habe sich dies in der Corona-Pandemie gezeigt: Rostalski leugnet keinesfalls die Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen in dieser Zeit. Aber sie vermisste eine gewisse "Verhältnismäßigkeit" - wie etwa die adäquate Berücksichtigung der individuellen Freiheit von jungen Menschen. Diese mangelnde Debattenkultur gehe auf den Fokus auf Vulnerabilität zurück - oder wie sie es ausdrückt: auf Diskursvulnerabilität.
An der ein oder anderen Stelle stellt sie ihre eigene These jedoch ungewollt selbst infrage. Wenn sie zugibt, dass manchmal durch Gesetze für manche Menschen überhaupt erst ein Freiheitsraum entsteht, wie können dann auch diese Vulnerablen an individueller Freiheit verlieren? Wo zunächst kein Freiheitsraum ist, kann auch keine individuelle Freiheit verloren gehen.
Vielleicht ist Freiheit ambivalent: Manchmal entstehen Freiheitsräume überhaupt erst durch Gesetze, wie etwa durch das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Wahlfreiheit. Manchmal geht durch Gesetze auch Freiheit verloren. Wo Rostalski recht hat: Inwiefern sich ein Gesetz auch gegen die eigentlich zu Schützenden richtet und individuelle Resilienz im Keim erstickt, sollte vor der Verabschiedung eines Gesetzes gründlich diskutiert und abgewogen werden. Ob der gesellschaftliche Diskurs und die juristische Entwicklung wirklich so sehr von Vulnerabilität geprägt sind, wie es Rostalski beschreibt, lässt sich allerdings bezweifeln. Sicher ist: Sie liefert ein intelligentes Plädoyer für individuelle Freiheit. FELIX SCHWARZ
Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit.
C.H. Beck Verlag, München 2024. 189 S.
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