Besprechung vom 04.09.2023
An einem solchen Mord sind mehr Menschen beteiligt
Katzen in der Gefriertruhe: Die Norwegerin Helene Flood versteht etwas vom Krimihandwerk
Soll man die Tatsache, dass jemand, der weitläufig, aber nicht als Täter, in einen Mordfall verwickelt ist, nach einem Geständnis einen Putzanfall bekommt, als Rechtfertigung für einen deutlich gesetzten Untertitel "Psychothriller" gelten lassen? Die Psychologin und in ihrem Heimatland Norwegen als Bestsellerautorin ausgewiesene Helene Flood hat nach dem Debüt ("Die Psychologin") in ihrem neuen Roman noch mehr solche Versatzstücke aus dem küchenpsychologischen Inventar zu bieten, ohne dass dies der Qualität des Buchs irgendeinen Abbruch täte.
Denn der Roman "Die Affäre" (im norwegischen Original "Elskeren", also "Der Liebhaber") liefert eine hochkomplexe Erzählung über eine Affäre, einen länger dauernden Seitensprung. Der - handfeste Regieerleichterung - unter demselben Dach gelebt werden kann. Denn Rikke und Jørgen, das Affärenpaar, leben mit ihren jeweiligen Partnern (sie heißen Åsmund und Merete) in zwei Wohnungen eines großen, schönen Hauses. Und wenn es passt, steigt Rikke ein Stockwerk höher.
Rikke arbeitet als Sozialforscherin an der Uni, ihre Jugendliebe und jetziger Mann Åsmund ist ebenfalls Akademiker; Merete hatte einstmals eine Karriere als Pianistin vor sich, die sie zugunsten von Jørgens sehr gehobener Journalistentätigkeit aufgab. Die Ehepaare haben Kinder; sie leben im Stadtteil Tåsen im Nordosten Oslos. Wer da lebt, hat es halbwegs geschafft und trinkt auch mal mit den Nachbarn abends Weißwein auf der großen, edelhölzernen Gemeinschaftsterrasse. So weit, so kaum erzählungsbefördernd. Doch plötzlich geschieht ein Mord: Jørgen liegt eines Tages niedergestochen über seiner Computertastatur. Warum sich wer wie mordend an ihm vergangen hat, klärt sich - natürlich - zum Schluss.
Doch nicht ganz so natürlich ist die Schwebe, in der das alles noch bleibt. Alle machen die Bekanntschaft mit der Polizei; es gibt einen dringend Verdächtigen, den man jedoch mangels Beweisen laufen lassen muss. Der Polizistin Ingvild vertraut sich Rikke vollständig an und erzählt ihr die Einzelheiten der Affäre. Da beide einmal gleichzeitig in einer WG gewohnt hatten, haben die Frauen einen ganz guten Draht zueinander.
Bis Ingvild der Fall aus inneradministrativen Gründen weggenommen wird und Gunnar Gundersen Dahle übernimmt. Ingvild mahnt Rikke dringend, ihr Verhältnis mit dem ermordeten Jørgen ihrem Mann zu beichten. In der Schwebe bleibt lange Zeit, ob Ingvild bei der Übergabe des Falls Rikkes Geständnis der Affäre an Gundersen Dahle weitergegeben hat.
Dass im schönen Wohnhaus im gentrifizierten und angesagten Szeneviertel sich Scheußliches, Widerwärtiges ereignen kann und wird, leitet eine dramatisch herumliegende tote Katze ein. Das hat fast etwas Voodoomäßiges; jedenfalls ist es eine erzählerisch erstklassige Präfiguration schlimmer Verläufe - zumal im narrativen Gesamtaufbau abgesichert durch weitere, getötete Katzen in einer Gefriertruhe. Mehr als Präfiguration leisten die Katzen aber nicht, sie führen nur hin zum ersten bald wieder laufen gelassenen Hauptverdächtigen.
Mit Rückblenden - typographisch distinkt - werden die Genese, die Blüte und das Verdorren der Affäre geschildert. So ganz allmählich wird offenbar, dass Jørgen erotisch ziemlich polyvalent unterwegs war. Meisterhaft kann Flood solche Sachen nebenbei unterbringen; hier liegt ein Schal herum, den wohl auch eine andere bekommen hat, dort pingen zu viele Whatsapps zu nachtschlafender oder sonst wie unpassender Zeit. Und wer sich die Mühe macht, genauer hinzuschauen, der erkennt die Konturen eines Journalisten Jørgen, der auch hochstaplerisch auf die Pauke haute, wenn ihm danach war.
Der Fall entwickelt sich so, dass kein Zweifel bleibt: Das Unglück und das Böse kommen überwiegend aus dem Schoß der Familie, und es sind neben dem eigentlichen Täter erheblich mehr Menschen an einem Mord dieser Art beteiligt, als denen, die am meisten vom Tod des Opfers betroffen sind, klar ist. Und wie die Autorin es schafft, in einer der Schlusspassagen, die gesamte Spannungslinie einer Kindesentführung durch den Mörder zu halten und dann doch nicht der Versuchung zu erliegen, jene Wirklichkeit werden zu lassen - das ist hohe Schule intelligenter, handwerklich gediegener Spannungsliteratur. STEPHAN OPITZ
Helene Flood: "Die Affäre". Psychothriller.
Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. btb Verlag, München 2023.
512 S., br.
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