Besprechung vom 09.01.2021
Macht es Ihnen eine Störung?
Künstlich ist da gar nichts, alles ist das pralle Berliner Leben: Irmgard Keuns Roman "Das kunstseidene Mädchen".
Von Matthias Weichelt
Den merkwürdigen Titel dieses Romans hatte ich schon öfter gehört. Was sollte das sein, ein kunstseidenes Mädchen? Die Kombination klang rätselhaft, weckte andererseits aber ziemlich konkrete Vorstellungen: von einem weichen, glänzenden Stoff, der kostbarer wirken soll, als er ist - was man ihm leider auch ansieht. Das musste offenbar auch für die Heldin des Buches gelten, die demnach auf Aussehen und Erscheinung bedacht ist und entsprechend wahrgenommen werden will. Ein eher artifizielles Geschöpf? Oder ein Mensch mit besonderen Ambitionen, von dessen Erscheinung man sich nicht täuschen lassen darf?
Auch die Lebensgeschichte der Verfasserin kannte ich nur bruchstückhaft. Das änderte sich, als wir 2020 in zwei Heften der Zeitschrift "Sinn und Form" unbekannte Briefe Irmgard Keuns aus dem Archiv der Akademie der Künste veröffentlichten. Die drastischen Wendungen ihrer Biographie böten selbst genug Stoff für einen Roman, allerdings keinen mit glücklichem Ausgang. Irmgard Keun wird 1905 im noch nicht zu Berlin gehörenden Charlottenburg in eine Kaufmannsfamilie geboren, die acht Jahre später nach Köln umzieht. Nachdem sie sich eine Zeitlang als Schreibkraft in der Firma ihres Vaters versucht hat, bewirbt sie sich auf einer Schauspielschule und erhält Ende der zwanziger Jahre kleinere Engagements in Hamburg und Greifswald.
Die freie Zeit, die ihr zwischen den kurzen Auftritten bleibt, nutzt sie zum Schreiben. 1931 bringt sie ihren ersten Roman heraus: "Gilgi, eine von uns", die Geschichte einer Stenotypistin, die sich mit ihrem beengten, eingeschränkten Leben in der Provinz nicht abfinden will und am Ende schwanger und arbeitslos in einen Zug nach Berlin steigt. Das Buch wird ein sensationeller Erfolg. Als 1932 das "Kunstseidene Mädchen" herauskommt, beträgt bereits die Startauflage fünfzigtausend Exemplare, es folgen Übersetzungen, Nachdrucke, eine Verfilmung. Das Publikum ist begeistert, die Kritik wird auf die junge Autorin aufmerksam. Auch wenn manche Besprechung so gönnerhaft ausfällt wie die von Kurt Tucholsky: "Eine schreibende Frau mit Humor. Sieh an!"
Der Lebenshunger zieht die Leser an
An Humor fehlt es tatsächlich nicht in diesem Buch. Was aber das Publikum damals so faszinierte und einen auch heute sofort in den Bann zieht, sind Lebenshunger, Zukunftserwartung, Glücksanspruch der jungen Doris, die "so ein Glanz werden" will, "der oben ist". Gleich mit dem ersten Satz ist der Sehnsuchtston gesetzt: "Das war gestern abend so um zwölf, da fühlte ich, daß etwas Großartiges in mir vorging." Wie ihre Vorgängerin Gilgi - und wie die Autorin selbst - hat Doris als Büroschreibkraft im als "mittlere Stadt" umschriebenen Köln ihr Auskommen, sie muss sich der Zudringlichkeiten ihres Chefs erwehren und landet, weil sie sich nichts gefallen lässt, auf der Straße. Auch die sich anschließende Karriere am Stadttheater, wo sie als Komparsin einspringen darf, ist nur von kurzer Dauer. Sie erfindet eine Affäre mit dem Direktor und lässt, als alles aufzufliegen droht, einen Pelzmantel mit reinseidenem Innenfutter mitgehen: "Da sah ich an einem Haken einen Mantel hängen - so süßer, weicher Pelz. So zart und grau und schüchtern, ich hätte das Fell küssen können, so eine Liebe hatte ich dazu. Es sah nach Trost aus und Allerheiligen und nach hoher Sicherheit wie ein Himmel." Mit dieser Tat, das weiß sie, ist "alles hin". Aber "alles ist hin, bedeutet mir - alles fängt an".
Die Stadt für Neuanfänge war damals wie heute Berlin. Und mit "Berlin Alexanderplatz", dem anderen großen Metropolenroman der Weimarer Republik, verbindet "Das kunstseidene Mädchen" auch die phänomenale Kraft der Spracherfindung. Liest man das Buch zum ersten Mal, ist man schlicht hingerissen von der Originalität und dem Einfallsreichtum, mit denen Doris ihre Geschichte erzählt: "Ich schreibe, weil meine Hand was tun will und mein Heft mit den weißen Seiten und Linien ein Bereitsein hat, meine Gedanken und mein Müdes aufzunehmen und ein Bett zu sein, in dem meine Buchstaben dann liegen, wodurch wenigstens etwas von mir ein Bett hat." Rhythmus, Bilder, Vergleiche - alles folgt einem eigenen Blick auf die Welt, einer Auffassungs- und Beobachtungsgabe, die Sätze ohne Scheu umbaut und Worte neu zusammengesetzt. Dass sie auf keinerlei Bildung zurückgreifen kann, belastet die aus einfachen Verhältnissen stammende Achtzehnjährige, dafür gelingen ihr Formulierungen, die man umgehend für sich übernehmen möchte: "Macht es Ihnen eine Störung?" oder "Ich hatte in eine Materie zu dringen" oder "faul wie eine jahrelange Leiche" oder "Ich habe Maßloses erlebt".
Die Kunstsprache, die Irmgard Keun ihrer Heldin auf den Leib schrieb, war sogar manchen ihrer Verlage zu radikal. Selbst in heute noch vertriebenen Taschenbüchern sind Sätze ins Standarddeutsch korrigiert, um das Gesagte gewohnt und korrekt erscheinen zu lassen: Aus dem unglaublich modern klingenden "dann gucke ich die Männer" wird ein konventionelles "dann gucke ich die Männer an", in "Die Frauen sind schön in Berlin und gepflegt mit Schulden und egal" wird ausgerechnet das genialische "und egal" gestrichen. Autorenpflege als Domestizierungsprogramm. Wer den Originalsound lesen will, greife lieber zur dreibändigen Werkausgabe aus dem Wallstein Verlag, die obendrein gar nicht teuer ist. Oder zum Prachtband der Büchergilde Gutenberg mit den wunderbaren Illustrationen von Gerda Raidt. Man kann sich das Buch aber auch von Fritzi Haberlandt vorlesen lassen, die den kunstseidenen Ton beherrscht wie niemand sonst.
Auch für die Nationalsozialisten ist das, was in diesem Buch gesagt, geschrieben und gedacht wird, zu radikal. Als 1933 in Berlin die ersten Bücher verbrennen, sind auch Keuns Romane darunter. Das eben noch überall gefeierte "Kunstseidene Mädchen" gilt nun als "Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz" und wird aus Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt, die Restauflage beschlagnahmt die Gestapo - wogegen Keun, auch das traut sich diese Autorin, vor Gericht Schadenersatzansprüche erhebt. Zur neuen Volksgemeinschaft passt eine wie Doris denkbar schlecht. Der überall spürbare Antisemitismus ist ihr ein Graus, mit einem Verehrer besucht sie einen "jüdisch-proletarisch-kommunistischen Klub" und erlebt einen Überfall rechter Schlägertruppen.
Überhaupt bekommt sie es mit allen Schichten der Gesellschaft zu tun, mit Prostituierten, Arbeitslosen, Kleinkriminellen, mit "Großindustrien" und Erfolgsschriftstellern. Sie will sich nicht vorschreiben lassen, mit wem sie Umgang hat. Und schon gar nicht, mit wem sie sich einlässt und wer ihr gefällt: "Wenn eine junge Frau mit Geld einen alten Mann heiratet wegen Geld und nichts sonst und schläft mit ihm stundenlang und guckt fromm, dann ist sie eine Heilige und deutsche Mutter von Kindern und eine anständige Frau. Wenn eine junge Frau ohne Geld mit einem schläft ohne Geld, weil er glatte Haut hat und ihr gefällt, dann ist sie eine Hure und ein Schwein."
Von derlei trostlosen Weltanschauungen hält Doris gar nichts, sie hat ihre eigenen Ansichten und Absichten. Keinesfalls will sie so enden wie ihre Mutter, die als "Klassefrau" diesen "Popel" von Mann geheiratet hat, der nur zu Hause herumsitzt und sie regelmäßig anbrüllt "von wegen männliches Organ zeigen - man kennt das". Dafür ist sie selbst viel zu eigensinnig, in eroticis schwankt sie zwischen Pragmatik und Romantik: "Mit einem Fremden schlafen, der einen nichts angeht, ganz umsonst, macht eine Frau schlecht. Man muß wissen wofür. Um Geld oder aus Liebe." Ohne jemanden, der Geld hat, wird eine Frau aus ihrer Schicht kein Glanz und kommt auch nicht nach oben - das ist die nüchterne Bilanz dieser scheiternden Aufstiegsgeschichte.
Ganz zerkracht und zerküsst
Aber auch in der Liebe ist es nicht immer leicht. Denn sie sind selten in diesem Buch, die Männer, deren Eroberungswille und Besitzanspruch nicht jede Möglichkeit verbauen, sich aufeinander einzulassen - sie habe viel Liebe und könne davon abgeben, sagt Doris an einer Stelle, aber man müsse sie zuerst wollen lassen. Die bigotte Lebensweisheit einer Freundin, Frauen seien tugendsam und Männer triebhaft, hilft ihr dabei auch nicht weiter: "Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus. Denn ich will manchmal einen, daß ich am Morgen ganz zerkracht und zerküßt und tot aufwache und keine Kraft mehr habe zu Gedanken und nur auf wunderbare Art müde bin und ausgeruht in einem." Über die komischen Seiten des großstädtischen Flirtverhaltens klärt Irmgard Keun das interessierte Publikum in der Zeitschrift "Querschnitt" unter dem schönen Titel "System des Männerfangs" auf. Und auch im "Kunstseidenen Mädchen" bewahrt sich Doris einen unbefangenen Blick auf die Choreographie der Annäherungsversuche in den einschlägigen Berliner Bars: "Hocken da die Mädchen einzeln auf ihren Hockern wie gerupfte Hühner auf der Stange, die erstmal eine Biomalzkur machen müssen, ehe sie wieder ein Ei legen können. Und davor so Kerle - wie sinnliche Hasen, die Männchen machen."
Überhaupt Berlin: Die Stadt, die heute als Kulisse für das Sündenbabel der Goldenen Zwanziger in Serien, Büchern und Filmen wiedererrichtet wird, kann man hier noch im Originalzustand kennenlernen. Und etwas von der Überwältigung ahnen, die einen Neuankömmling inmitten der Vergnügungssucht und Untergangsangst befallen konnte. Doris liebt Berlin "mit einer Angst in den Knien" und unternimmt, ein großartiger literarischer Einfall, für einen blinden Nachbarn Streifzüge durch die Stadt, um ihm anschließend davon zu berichten: "Ich gucke mir alle Straßen an und Lokale und Leute und Laternen. Und dann merke ich mir mein Sehen und bringe es ihm mit." Da ich kurz vor der Lektüre das Berlin der dreißiger und vierziger Jahre auf den Spuren Felix Hartlaubs erkundet hatte, war ich für dieses überlieferte Sehen besonders empfänglich. Wer die Schauplätze des Romans und die Lebensorte der Autorin heute wiederfinden will, hat übrigens Glück: In Michael Bienerts gerade im Verlag für Berlin-Brandenburg erschienenem reichbebilderten Band "Das kunstseidene Berlin" ist beides möglich.
Am Ende des Buches ist Doris erschöpft und ernüchtert von der großen Stadt. Dass Irmgard Keun ihr bald darauf den Rücken kehrt, hat andere Gründe. "Sie wollen mich nun mal nicht in Berlin", schreibt sie 1935 aus Frankfurt, nachdem ihr Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer wieder einmal abgelehnt worden ist, was im NS-Deutschland Publikationsverbot bedeutet. Ein bereits fertiger Roman darf nicht erscheinen und geht verloren. Als man sie für kleinere publizistische Beiträge mit einer Strafe von zweihundert Mark belegt, schreibt sie einem Brieffreund, sie habe angefragt, ob sie wenigstens auf den Strich gehen dürfe, um das geforderte Geld aufzutreiben.
Ein Jahr später, nach zermürbendem Warten und einem Selbstmordversuch, flieht sie nach Holland, veröffentlicht in rascher Folge Bücher, reist mit Joseph Roth durch das noch freie Europa und kehrt nach der Besetzung der Niederlande mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie die Zeit bis zum Kriegsende an der Mosel und bei den Eltern in Köln übersteht. Aus den wiederaufgetauchten Briefen erfährt man etwas über das Dasein der einst berühmten Autorin in der nun feindlichen Heimat. Das Elend der Lage bestimmt den Ton des Schreibens, aber auch die lässige Eleganz, die Formulierungsgabe des "Kunstseidenen Mädchens" leuchten immer wieder auf, etwa wenn es über einen allmählich lästig werdenden Ferienfreund heißt: "Er hat ja mal sehr belebend auf mich gewirkt. Aber das ist vorbei. Er war so wunderbar primitiv; so aus allernächster Nähe kannte ich solche Wesen noch nicht, und es war mir interessant. Und was mich wirklich interessiert, gefällt mir auch. Aber nun hab' ich ihn sozusagen ausgelesen, und er ist eigentlich kein Buch, das ich noch mal lesen und immer wieder lesen könnte. Und ich war für ihn immer eine sehr anstrengende Lektüre."
Nach dem Krieg kann Irmgard Keun nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Die Jahre der Flucht und des Untertauchens haben Spuren hinterlassen. Sie trinkt zu viel, lebt in Hotelzimmern und wird in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Der große neue Roman, aus dem sie Verlegern und Journalisten am Telefon vorliest, besteht nur aus leeren Seiten. Aber sie erlebt auch noch, dass ihre Bücher wiederentdeckt und gelesen werden. Doris, die junge unerschrockene Frau in unsicheren Verhältnissen, die sich nach Glanz und Geborgenheit sehnt und sich von niemandem etwas vormachen lässt, ist auch eine Figur für unsere Zeiten. Ein lebenskluges, lebensvolles Buch für alle, die sich nicht entmutigen lassen.
Matthias Weichelt ist Redakteur der Zeitschrift "Sinn und Form". Zuletzt erschien von ihm "Der verschwundene Zeuge - Das kurze Leben des Felix Hartlaub" (Suhrkamp).
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