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Besprechung vom 26.09.2023
Der Schlüssel zum Hexagon
So nah und doch zuweilen so weit weg - eine Bedienungsanleitung für Deutsche im Umgang mit Frankreich
Crêpes vor dem Eiffelturm essen, durch den Louvre spazieren, in Nizza oder Cannes am Strand liegen, Lavendelfelder in der Provence, Liberté, Égalité, Fraternité: So mag man Frankreich in Deutschland vor allem kennen. Über die Klischees hinaus geht es dann noch um Macron, Le Pen, das philosophische Vermächtnis von Sartre oder de Beauvoir, die Gelbwesten-Bewegung, Napoleon und vielleicht la nouvelle vague.
Aber wo bleibt das andere Frankreich? Das Frankreich der Dörfer in der sogenannten "diagonale du vide" (Diagonale der Leere) in der Mitte des Landes, vernachlässigt von Politik und Wirtschaft, das Frankreich der stets vergessenen Überseegebiete, das Frankreich der indischen und pakistanischen Märkte im Pariser Vorort Aubervilliers, das Frankreich der von Polizisten verprügelten Demonstranten, das Frankreich der Debatte, ob es jetzt chocolatine oder pain au chocolat heißen soll, das Frankreich der Drogendealer vor dem Lyoner Bahnhof Part-Dieu?
Isabelle Bourgeois, Dozentin am Pariser Institut d'études politiques und Autorin für diverse deutsche und französische Medien, hat ihr neues Buch dieser These folgend geschrieben: dass Deutschland nämlich seinen französischen Nachbarn nicht ganz so gut kennt, wie es meint. Deutschland und Frankreich sind "fremde Freunde", wie sie es nennt.
Unterschiede gibt es viele zwischen den beiden Ländern. Da wäre zum einen der französische Zentralismus, der sich als großer Gegensatz zum deutschen Föderalismus durch das Buch zieht. Der Zentralismus hat im Hexagon - in Frankreich ein oft verwendeter Begriff für das Land, an seine geographische Form angelehnt - viele Facetten: So gibt es etwa einen journalistischen Zentralismus. Während in Deutschland längst nicht alle großen Medien ihren Hauptsitz in Berlin haben - obwohl zumindest ein Korrespondentenbüro unerlässlich ist -, gibt es beinahe kein einziges nationales französisches Medium, egal ob Zeitung, Fernsehsender oder Radiosender, der nicht von Paris aus in den Rest des Landes hineinberichtet.
In Paris sammelt sich überhaupt alles: Justiz, Politik, die meisten großen Unternehmen, Medien, die berühmtesten und besten Universitäten. Dieser Zentralismus der Hauptstadt beeinflusst auch das Denken und die Gesellschaft im Rest Frankreichs. Anders als in Deutschland, wo sich alles zwischen Berlin, Hamburg, Frankfurt, München, Köln und Leipzig verteilt, sammelt sich in Paris daher auch die Macht. Die Stadt wird für viele Franzosen zu einer fast unerlässlichen Station einer guten Karriere oder Ausbildung. In Paris wird über den Rest des Landes - und seltener mit diesem - diskutiert, gestritten, entschieden.
Zum anderen wäre da aber auch das (mediale) Bild Frankreichs und Deutschlands, denn Bourgeois wendet sich ganz besonders an deutsche Auslandskorrespondenten, die über Frankreich berichten sollen. Hier geht es um grundlegende, aber nicht immer gleich offensichtliche Widersprüche und Missverständnisse, wie es auch der Untertitel des Buches andeutet. So zum Beispiel ist der französische citoyen zwar generell die Übersetzung des deutschen Bürgers, bedeutet jedoch in der Realität nicht das Gleiche. So wie auch auf staatlicher Ebene im deutschen Föderalismus mehr Eigenständigkeit den Bundesländern zukommt, ist auch der deutsche Bürger mündig und darf beziehungsweise muss eigenverantwortlich handeln. Ganz anders ist es da in Frankreich: Der citoyen "ist ein Atom der abstrakten Größe 'Volk' bzw. der einheitlichen République", schreibt Bourgeois. Dadurch kommt ihm auch wesentlich weniger Selbstbestimmung als in Deutschland zu, und er kann weniger politisch mitgestalten.
Genauso ist das politische System unterschiedlicher, als es von außen den Anschein haben mag. Wie auch Deutschland ist Frankreich eine Republik und eine Demokratie, doch sie hat "eindeutige monarchische Züge", schreibt Bourgeois. Das Parlament, bestehend aus Sénat und Assemblée Nationale, hat weit weniger Macht als der Deutsche Bundestag, und politische Parteien sind im Hexagon viel mehr "Rennställe" für Kandidaten als Grundpfeiler politischer Stabilität wie in Deutschland. Dadurch ergeben sich andere politische und gesellschaftliche Hierarchien, die zwar durch ähnliche Begriffe den Schein von Vertrautheit erzeugen, sich aber erheblich voneinander unterscheiden.
Bourgeois bleibt nicht nur bei Politik und Medien, sondern fängt auch mit detailreichen Analysen die meisten Facetten der französischen Gesellschaft und Wirtschaft ein. Vom SMIC - dem französischen Mindestlohn, der sich allein nach Inflation und Kaufkraft richtet - bis zu den déserts médicaux, Regionen, in denen der Zugang zu Gesundheitsversorgung viel zu dürftig ist, erklärt und beschreibt sie das Land. Einerseits beschreibt und erklärt sie für die Deutschen, andererseits auch für die Franzosen selbst, die ihr eigenes Land nicht immer zwischen den Zeilen lesen können.
"Frankreich entschlüsseln" ist also ein Wegweiser, fast schon eine kleine Bedienungsanleitung zum Ablegen der eigenen "nationalen Brille", mit der man oft die Welt betrachtet. Das Buch will kein Lexikon zum allumfassenden Verständnis des Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins sein; vielmehr gibt es dem Leser und auch dem deutschen Auslandskorrespondenten die Werkzeuge in die Hand, um hinter die Kulissen eines Landes blicken zu können, das so nah ist und doch manchmal weit weg. CRISTINA CÖLLEN
Isabelle Bourgeois: Frankreich entschlüsseln. Missverständnisse und Widersprüche im medialen Diskurs.
Herbert von Halem Verlag, Köln 2023. 287 S.
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