Mit diesem kurzen Text, der in den 1970er-Jahren als erstes Kapitel eines ganzen Bandes zu den Stone Age Economics erschien und erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, bricht Marshall Sahlins mit dem vorherrschenden ökonomischen Paradigma, dass mehr Arbeit auch mehr Wohlstand bringt. Denn bis heute wird es weltweit täglich Lügen gestraft, was der Annahme von der ursprünglichen Wohlstandgesellschaft die Brisanz verleiht, die sie noch immer hat: Was wäre, wenn wir immer schon reich gewesen sind? Und was verschiebt sich, wenn wir Armut nicht als eine geringe Menge an Gütern im Besitz Einzelner begreifen, sondern als ein Verhältnis zwischen den Menschen? Was der weltberühmte Anthropologe anhand empirischer Beispiele entwirft, stellt einen radikalen theoretischen Bruch mit dem Höher-Schneller-Weiter dar, das die westliche Konsumgesellschaft vorantreibt.
Wenn es neben der Befriedigung von Bedürfnissen durch immer größere Produktion noch einen anderen Weg gibt, dann sollten wir ihn gerade angesichts der Vernutzung unseres Planeten und der Ungleichheit in der Verteilung von Teilhabe wieder in Betracht ziehen: dass Reichtum auch darin bestehen kann, weniger zu begehren.
Besprechung vom 30.11.2024
Vorräte sind schon der Sündenfall
Eine andere Ökonomie: Marshall Sahlins' wirkmächtiger Text über die steinzeitlichen Jäger und Sammler erscheint auf Deutsch.
Von Helmut Mayer
Von Helmut Mayer
Ethnologie - oder auch Anthropologie - handelt von fremden Gesellschaften mit Seitenblick auf die eigene. Oder in den Worten eines berühmten Vertreters ihres Fachs, des vor drei Jahren in hohem Alter verstorbenen Marshall Sahlins, sie ist "eine doppelte kulturelle Erkenntnis: die des Anderen und die des Eigenen". Wobei der Umweg über das Andere einer mehr oder minder ausgeprägten Distanznahme vom Eigenen entspricht. Sahlins setzte diese kritischen Akzente gegenüber der eigenen Gesellschaft deutlich. Sein erst jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erscheinender Text über "Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft" (The Original Affluent Society) führt es gut vor Augen.
Geschrieben wurde er vor mehr als fünfzig Jahren, als Schlusskapitel von "Stone Age Economics" (1972), eine erste Fassung war aber bereits 1968 in "Les Temps Modernes" in Paris erschienen, wo Sahlins an diesem Buch arbeitete. Kurz zusammengefasst kurze hätte sie auch in die Bulletins der "Internationale Situationniste" gepasst. Schließlich handelt es sich um eine mit Verve und Witz geschriebene Kritik an der Vorstellung, dass die westlichen Konsumgesellschaften auf ihrem Weg immer weiter zunehmender Produktivität einen unbezweifelbaren Fortschritt darstellen. Sahlins nahm es mit dieser ökonomisch formulierten Selbstanpreisung auf, indem er ausmalte, wie man sich das Leben in steinzeitlichen Kleingesellschaften von Jägern und Sammlern vorzustellen habe.
Nach modern ökonomischer Bewertung war die Sache klar: Nahm man da und dort noch bestehende Gruppen von umherziehenden Jägern und Sammlern als Anhaltspunkt für einen (heiklen) historischen Rückschluss, so ergab sich erwartungsgemäß eine schlichtweg deplorable Wirtschaftsleistung. Diese nicht sesshaften Kleingesellschaften, die es zu vorausschauender Planung nicht brachten, lebten demnach, nahm man die modernen Kennwerte als Richtlinie, in bitterer Armut und zudem dauernd auf der Flucht vor drohendem oder erlittenem Hunger. Eine Einschätzung, der eine Reihe von Anthropologen teilte.
Sahlins revidierte dieses Bild von Grund auf. Aus der mangelnden Planung wird bei ihm ein zuversichtliches Leben im Augenblick, das mit wenig Arbeitsaufwand - hier fließen später viel diskutierte, auch deutlich revidierte Daten aus Erhebungen zu modernen Jägern und Sammlern ein - alle bestehenden Bedürfnisse befriedigt. Aus einem elenden, mühseligen, immer gerade noch dem Hunger entkommenden Herumziehen wird bei ihm ein Leben mit Mußezeit, profitierend von einem reichlichen Nahrungsangebot an den Orten der Wanderungen, die nicht von Unsicherheit und Sorge geprägt sind, sondern "eher den Charakter eines Picknickausflugs an der Themse" haben. Die im modernen Maßstab unbezweifelbare, aber die Natur schonende Unterproduktion entpuppt sich bei Sahlins als höchst effektive Weise, mittels einer "Zen-Ökonomie" (die Gegenkultur der Sechziger lässt grüßen) eine Passung von Bedürfnissen und deren Befriedigung herzustellen. Was dem Blick der Wirtschaftswissenschaftler und der von ihnen angesteckten Anthropologen als Armut erscheint, ist demnach nicht anderes als ein Preis für ein gutes Leben.
Das kann zum einen heißen, ein besseres Leben, als es dann viele Menschen mit der neolithischen Revolution in den größer werdenden, auf Kurs hierarchischer Organisation gehenden Ackerbaugesellschaften führen werden - ein Thema, über das noch viel geschrieben werden sollte und zu dem gerade in den vergangenen Jahren wieder mehrere Bücher erschienen sind. Aber Sahlins zielt noch direkter auf den Vergleich mit der Gegenwart, so wie es in jüngster Zeit auch sein späterer Ko-Autor David Graeber mit großem Erfolg tat (der seinen Mentor für den Nobelpreis für Ökonomie vorschlug). Etwa mit Blick auf das Thema Hunger, denn sehe man sich die Weltlage an, müsse man die Formel von der Flucht aus der unsicheren Nahrungsversorgung hin zu den staatlich organisierten Großgesellschaften doch umdrehen: Der Hunger wachse relativ und absolut mit der Entwicklung der Kultur.
Es braucht keine große Erklärung, warum Sahlins' Attacke auf das Konzept eines ökonomisch gegründeten Fortschritts Epoche machte und den Text in den anthropologischen Lektürekanon beförderte, obwohl die empirische Basis schwach war und neuere Feldforschung bei Jägern und Sammlern, die sich Energiebilanzen ansieht, zu anderen Einschätzungen kommt. Schließlich hat überzeugende moderne Ethnographie jenseits fachlicher Einhegungen immer damit zu tun, zivilisatorische Eingebildetheiten zurückzustutzen. Sahlins' Erinnerung an eine steinzeitliche Ökonomie tat es mit genauem Blick für zeitgenössische wirtschaftswissenschaftlich gestützte Varianten, der Moderne einen unglaublichen Fortschritt zu attestieren.
Es bleibt dabei immer und so auch bei Sahlins die Frage, welcher Stellenwert solchen Erinnerungen zukommt. Handelt Sahlins tatsächlich, wie es Vorwort zur nun erschienenen Übersetzung sehen möchte, von "alternativen" Formen der Lebensführung, die einen Ausweg weisen aus dem ökologischen Katastrophenkurs unserer Gegenwart? Und sollte man sich tatsächlich entscheiden müssen, entweder dem Lager derjenigen anzugehören, welche die Entwicklung zur modernen Konsumgesellschaft als unumgänglich ansehen, oder zu denen zu zählen, die sie als "Fehlentwicklung" betrachten?
Solches Absehen auf unmittelbare Nutzanwendung übersieht großzügig den Sachverhalt, dass die alternativen Weltbewältigungen (samt zugehörigen Ontologien), welche Anthropologen sich aufzuschlüsseln bemühen, nicht einfach verfügbar sind. Klassische Ethnologie mit ihrem Fokus auf überschaubare Gesellschaften handelt von Alternativen, die für Massengesellschaften der Gegenwart keine sind. Denn die können so wenig zu Bedürfnisadaptionen der Jäger und Sammler zurückkehren, wie es ihnen möglich ist, einfach eine indigene Ontologie zu adaptieren, um die Naturausbeutung abzustellen (das müssen sie dann schon auf eigenem Terrain hinbekommen). Was freilich nichts daran ändert, dass die Einsichten in diese anderen Schematisierungen von Natur und Kultur die notwendige Nachdenklichkeit fördern.
Die Frage, ob die Entwicklung zu heutigen Gesellschaftsformationen unumgänglich war oder nicht, kann man dagegen getrost beiseitesetzen. Man mag sich ruhig herausnehmen, mit etwas groß ausfallender Geste eine "Fehlentwicklung" zu bedauern (oder gleich wie Jared Diamond den "schlimmsten Fehler" in der Menschheitsgeschichte zu konstatieren), die durch Kulturzuwachs nicht kompensiert wurde - greifbare "Alternativen" sind damit nicht gleich zur Hand.
Die deutsche Ausgabe von Sahlins' Text lässt sich als eine Art Nachlieferung zur Vorgeschichte von heute wieder mehr Aufmerksamkeit findender ethnologischer/anthropologischer Literatur in gesellschaftskritischer Absicht betrachten. Mit dem Ethno-Boom, der in den Siebzigerjahren einsetzte, ist das zwar noch nicht zu vergleichen, aber ein Echo auf ihn meint man zu vernehmen.
Marshall Sahlins: "Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft".
Aus dem Englischen von Heide Lutosch. Vorwort von Andreas Gehrlach. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2024.
143 S., br.
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