Besprechung vom 16.10.2021
Ewigkeit der Rache
Was sind heutige Theaterskandale gegen diese wilde Geschichtenkunst? Mayotte Bollacks nacherzählende Deutung der Tragödien des Euripides zeigt auf neue Art und doch einmal mehr, wie zeitlos das antike Drama ist.
Von Andreas Platthaus
In den Achtzigerjahren sah man die Tragödie noch einmal ganz neu, und dafür verantwortlich zeichnete ein Pariser Bühnenkollektiv unter der Leitung einer Frau. Was Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil zu Beginn jenes Jahrzehnts mit Shakespeare angestellt hatte - die Anreicherung eines altbekannten Klassikers mit neuer Welt insoweit, als über Gestik, Kostüme, Masken und Musik die unterschiedlichsten Schauspielkulturen zusammengebracht wurden -, das führte die Truppe dann zum Abschluss des Jahrzehnts mit einer griechischen Tragödientetralogie zur Vollendung. Unvergesslich, wie aus dem kargen Bühnenbild immer wieder der weiß geschminkte und in dicke Wollstoffe gehüllte Chor hervorbrach und die mörderische Handlung tanzend kommentierte. Mnouchkine und ihre Mitstreiter beflügelten das Theater.
Vier Tragödien bildeten diesen Zyklus namens "Les Atrides", benannt nach der Herrscherfamilie aus der griechischen Stadt Argos, die durch die führende Rolle von König Agamemnon im Feldzug gegen Troja ins Unglück gestürzt wird. In der attischen Demokratie dienten solche ursprünglich mündlich überlieferten mythischen Stoffe in der dramatischen Form als Spiegel der Gesellschaft, deshalb wurden sie damals immer wieder auf die Bühnen gebracht. Im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts widmeten sich ihnen nacheinander mit Aischylos, Sophokles und Euripides die heute noch berühmtesten antiken Dramatiker, und Mnouchkine selbst brachte für ihr Atriden-Projekt die aus drei Stücken bestehende "Orestie" des Aischylos neu ins Französische. Das dazugehörige Satyrspiel hat nicht überlebt. Doch im Théâtre du Soleil wurde der Trilogie um den Sohn des Agamemnon ein spätes Stück des Euripides vorgeschaltet, "Iphigenie in Aulis", weil das darin erzählte Geschehen die Motivation für die Rachegeschichte um Orest darstellt. Diese Tragödie übersetzte Mnouchkine nicht selbst, weil sie wusste, dass es in Frankreich für Euripides ein Traumpaar gab: Jean und Mayotte Bollack. Beide waren damals schon über sechzig und brachten jahrzehntelange altphilologische Erfahrung mit.
Und sie deuteten die antiken Helden des Stücks anders als in der modernen Theatertradition üblich. In ihrem jetzt bei der Friedenauer Presse erschienenen Euripides-Buch "Dämonen und Drachen" stellt Mayotte Bollack in einer Anmerkung fest: "Die Figur des Achill, des großspurigen Kriegers, ist in diesem tragikomischen Licht wohl zum ersten Mal 1990 in unserer Interpretation auf die Bühne gebracht worden." Die eigentliche Revolution ihrer Achill-Deutung aber drückt ein kurzer Satz von Bollack im Haupttext des Buchs aus: "Er hat einen schlechten Charakter." Der strahlendste Held als Schuft, Tölpel, Fatzke. Bevor Mnouchkine mit ihrer Inszenierung bezaubern konnte, hatten ihre beiden Texter erst einmal den Mythos entzaubert.
Jean Bollack, ein enger Freund Paul Celans, starb 2012 mit neunundachtzig Jahren, und als seine Witwe Mayotte im selben Alter war, 2017, brachte sie das Buch "Démons & dragons" heraus, in dem sie die Summe der Erkenntnisse des Ehepaars über Euripides zog. Jetzt, vier Jahre danach, aber erfreulicherweise immer noch zu Lebzeiten von Mayotte Bollack, ist es also ins Deutsche übersetzt worden. Es ist nie zu spät für ein großes Buch. Und man darf sagen, dass dieses für den jüngsten der drei großen griechischen Dramatiker dasselbe leistet wie ehedem das Théâtre du Soleil für die Tragödie: Es stürzt um, was wir zu kennen glaubten.
Nicht durch eine Neuübersetzung; die Bollacks haben zwar mehrere der insgesamt neunzehn erhaltenen Stücke des Euripides (darunter mit "Rhesos" ein apokryphes) ins Französische gebracht, aber um neue Leser für den antiken Autor zu finden, hat Mayotte Bollack einen anderen Weg gewählt, der Euripides' Stoffe in gewisser Weise wieder an deren Quelle zurückführt: das Erzählen. Bollack fasst den Inhalt jeder der achtzehn Tragödien und der einen überlieferten Komödie - "Der Zyklop", in der es grausamer zugeht als in allen anderen Stücken, wobei Euripides aber auf eine solche Splatter-Ästhetik setzte, dass neben dem ausgestochenen Auge Polyphems auch keines im Publikum trocken blieb; es gibt wenig Neues unter der Sonne - in jeweils ähnlicher Länge (acht bis zehn Seiten) zusammen. Doch dabei entsteht nicht ein aufs Werk des Euripides beschränkter Schauspielführer, sondern ein Erzählkosmos, der in seinen Gesetzen der Mechanik des Ineinandergreifens von menschlicher Hybris und göttlicher Willkür Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann. Fast zweitausendfünfhundert Jahre sind diese Stücke alt, doch was sind die heutigen Wilden des Theaters gegen diesen Einfallsreichtum?
Euripides lebte von den Achtzigerjahren des fünften vorchristlichen Jahrhunderts bis 406, von 455 an wird er als Teilnehmer an den Bühnenwettbewerben der jährlichen Dionysien genannt, dem wichtigsten Fest der demokratisch regierten Stadt, deren Selbstverständnis in den dafür geschriebenen Stücken zum Ausdruck kam. Neunzig Tragödien und Satyrspiele von Euripides sind namentlich bekannt, und die Summe seiner bis heute überlieferten Stücke ist größer als diejenige seiner Vorgänger Aischylos und Sophokles zusammen, was gerne als Beweis für eine größere Popularität des Euripides in der Antike verstanden wird. Dank der schriftlichen Quellen zu den Dionysien kann man seine Stücke recht genau datieren, die erhaltenen stammen aus der Zeit zwischen 438 und 406 vor Christus, und sie könnten chronologisch abgedruckt werden, aber die übliche Darbietung in Gesamtausgaben ist gemäß antikem Vorbild eine alphabetische nach den Titeln.
So hält es auch Mayotte Bollack, beginnend also mit "Alkestis" (zufällig auch das älteste) und endend mit "Die Troerinnen", das 415 entstanden ist. Eine Erläuterung oder gar Begründung dafür erachtet die greise Altphilologin für überflüssig; die Reihenfolge ist ja evident. In der deutschen Übersetzung leidet die alphabetische Anordnung allerdings darunter, das "Le Cyclope" mit "Der Zyklop" übersetzt wird. Man hätte sich gewünscht, dass Tim Trzaskalik da die bei uns übliche Schreibweise geopfert hätte.
Trzaskalik, ein Virtuose des sprachlich scheinbar Unmöglichen - er hat 2017 die dreibändige Ausgabe der Korrespondenz Rimbauds ins Deutsche gebracht und sie dabei gegenüber der französischen Originalausgabe noch durch Neufunde angereichert -, war schon vor anderthalb Jahrzehnten an der Übersetzung von Jean Bollacks Celan-Buch beteiligt. Mit der deutschen Fassung von "Dämonen und Drachen" gelingt ihm ein Meisterstück. Mayotte Bollacks Prosa lebt von lapidarem Witz nicht weniger als von ihrer Eleganz. Ein Beispiel dafür aus der Wiedergabe des euripideischen "Orest", und zwar jene Szene, in der der Titelheld mit seinem Helfer Pylades die schöne Helena ermorden will, weil sie den Trojanischen Krieg ausgelöst hatte: "Die Schönheitskönigin ist kurz davor, durch seinen Schwerthieb zu sterben, als plötzlich die Eunuchen, Türen und Schlösser aufbrechend, wieder hervorkommen. Orest und Pylades lassen Helena los und stellen sich ihnen; zwei gegen die gesamte Meute metzeln sie alle nieder, wie wahre griechische Helden in einem Miniaturtroja. Dann stürzen sie sich auf die hereinkommende Hermione. Helena aber ist im Tumult entwischt, entweder durch einen jeder Zauberkniffe, die sie so gut beherrscht, oder von den Göttern entrückt. Mit ihrem Verschwinden zerplatzt einer Seifenblase gleich der trojanische Krieg selber, die gesamte ungeheuerliche Maschinerie, die zu Helenas Rückeroberung ersonnen worden war."
Das kleine Massaker spiegelt das vorangegangene große auch in dessen Sinnlosigkeit und setzt es ein weiteres Mal ins Unrecht - das macht Mayotte Bollack wunderbar klar. Zudem gelingt es ihr, aus dem reinen Rollentext der Tragödien szenisches Potential insofern zu schlagen, als sie die darin vom Chor kommentierten und somit beschriebenen Taten auf der Bühne in äußerst handfest geschilderte Action übersetzt. Dementsprechend sind die Chöre auch die großen Abwesenden im Buch, kaum einmal erwähnt außer bei jenen Stücken, in denen sie selbst zu zentral Handelnden werden wie etwa in "Die Bacchantinnen". Mayotte Bollack gelingt das Kunststück, aus den Chorpassagen, dem heute altertümlichst wirkenden aller euripideischen Mittel, jene erzählerische Essenz zu destillieren, die ihre eigenen Schilderungen des Geschehens geradezu cineastisch-dramaturgisch und damit am allermodernsten wirken lässt. Und Trzaskalik findet jeweils die richtige deutsche Entsprechung, wenn es dabei einmal flapsig wird. Oder zynisch.
Wie etwa in der Schilderung aus "Andromache" von der Eifersucht Hermiones, der frisch angetrauten Gattin von Neoptolemos. Ihr Mann hat sich in die von ihm versklavte trojanische Prinzessin Andromache verguckt: "Ihr Herr war ihr zu gut, zu gut in den Augen Hermiones, seiner neuen Frau. Neoptolemos begehrte diese nicht, sodass sie, verbittert und wutentbrannt, ihren Zorn auf die Sklavin richtete, die ihr den Gemahl durch die willfährigen Bande des Fleisches abspenstig machte, ihr, der reichen und verwöhnten Prinzessin aus einem der mächtigsten Häuser Griechenlands, der einzigen Tochter des Menelaos und der Helena aus Sparta. Hermione verstand nicht, wie man ihr, es sei denn aufgrund von Liebestränken, eine Barbarenfrau, eine vom Schmerz verzehrte Mutter, vorziehen konnte. Tatsächlich aber atmete der Prinz auf Andromache die Luft des Gemetzels." Zunächst nimmt da Bollack, in Engführung des Monologs der Hermione aus dem Stück, deren missgünstigen Blickwinkel ein, ehe der abschließende Satz die Perspektive auf Neoptolemos umlenkt und diesen als immerwährenden Krieger abfertigt, der noch in der Rolle des Liebenden die des Schlächters weiterzuspielen genießt. In einem Nu laufen wir zu Hermione über, aber auch diese Parteinahme wird nicht lange währen. Sie resultiert aus unserem modernen Verständnis, aber Mayotte Bollack bietet ein Wechselbad der Gefühle, das keinen Zweifel daran lässt, wie beschränkt unsere Möglichkeiten sind, die archaische Psychologie der griechischen Tragödie zu akzeptieren.
Umso höher einzuschätzen ist ihre Vermittlungsleistung. Die nicht zuletzt darin besteht, Verbindungen zwischen den einzelnen Stücken durch kurze Vor- oder Rückverweise offenzulegen. Der Versuch, die neunzehn Stücke des Euripides nach ihrer Handlungszeit zu gruppieren, wäre womöglich reizvoll gewesen, weil der Bezugspunkt nahezu aller der Trojanische Krieg ist - manche leiten darauf hin, andere sind währenddessen angesiedelt, die meisten jedoch danach, denn nichts bietet so reichen Stoff für Tragödien wie ein gewonnener Krieg.
Doch die durch die alphabetische Anordnung im Buch erzwungenen Querverweise sind dramaturgisch gewollt. Gleich auf der ersten Seite des Vorworts macht Mayotte Bollack klar: "Die Wiederholung ist mein Anliegen." Das hat sie mit Euripides gemeinsam, der im Blutracheprinzip das bestimmende Element seiner Stoffe findet: Alle Untaten holen die Menschen wieder ein, wiederholen sich, und ein Ausweg lag traditionell nur in der Ausmerzung einer Blutlinie. Peter Handke hat der von Euripides geschmähten Sinnlosigkeit dieses Vorgehens 2010 mit seiner Übersetzung eines Satzes des Chors aus dessen "Helena" Ausdruck verliehen: "Denn wenn es der Kampf bis aufs Blut ist, welcher jeweils das letzte Wort hat: nie und nimmer wird dann die Gespaltenheit aus der Menschenwelt schwinden!" Aber Athen hat einen neuen Ausweg geschaffen: das Gesetz. "Das öffentliche Verfahren erlaube es, aus dem verfluchten Gewaltzusammenhang auszubrechen", referiert Bollack die Meinung des weisen Tyndareos aus "Orest". Ihr eigenes Buch zeigt, dass aber auch diese Absicht Hybris ist, attische Staatspropaganda. Denn am Schluss sind es regelmäßig die Götter, die der Vernunft das Wort reden müssen (und Taten folgen lassen).
So auch in "Iphigenie auf Aulis". Die Stimme der Artemis ertönt und verkündet, dass sie die zum Menschenopfer bestimmte Titelheldin im entscheidenden Moment durch ein Reh ersetzt habe. Dieses Nachspiel wird meist als nicht von Euripides selbst verfasst betrachtet, aber damit hält sich Mayotte Bollack gar nicht auf. Denn 1990 hatte Ariane Mnouchkine schon die theatralische Lösung des philologischen Dilemmas präsentiert: Sie legte die von den Bollacks übersetzten Göttinnenworte einem Opferpriester in den Mund, gespielt von Georges Bigot, der neun Jahre zuvor für das Théâtre du Soleil die Titelrolle in Shakespeares "Richard II." gespielt hatte. Wer glaubt schon dem Henker? Wer einem gescheiterten König? Die Tragödie ist ewig.
Mayotte Bollack: "Dämonen und Drachen". Die neunzehn Stücke des Euripides nacherzählt und interpretiert.
Aus dem Französischen von Tim Trzaskalik. Friedenauer Presse, Berlin 2021. 208 S., br.
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