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Besprechung vom 26.11.2022
Warum ist die Gegenwartsliteratur so schlecht?
Von Fitzek zu Mosebach ist es womöglich gar nicht so weit: Moritz Baßler baut seine erfrischende Polemik gegen den "Midcult" des Erzählens zu einem Buch aus, das vielen die Augen öffnen könnte.
Von Jan Wiele
In seinem Essay "Masscult & Midcult" beschrieb der amerikanische Kritiker Dwight Macdonald im Jahr 1962 eine Kunst als Massenware, die sich, beim "Midcult", dennoch den Anschein von Hochkultur gibt und Bedeutsamkeit prätendiert. Der italienische Schriftsteller und Wissenschaftler Umberto Eco baute den Midcult-Begriff aus, und auch der deutsche Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, der sich seit Jahrzehnten mit populärer Kultur beschäftigt und 2002 eine vielbeachtete Monographie zum "deutschen Pop-Roman" vorgelegt hat, verwendete "Midcult" schon seit langer Zeit gelegentlich zur Analyse von Literatur. Aber als Baßler dies im Sommer 2021 noch einmal - und vielleicht etwas polemischer - in seinem Essay "Der neue Midcult" tat, waren die Reaktionen erstaunlich. Sie reichten von großer Anerkennung bis zu starker Ablehnung. Baßler schien einen Nerv getroffen zu haben - womit? Er hatte ein paar Beispiele von "Midcult" in der Gegenwartsliteratur genannt und zudem kritisiert, dass Midcult-Produzenten und Midcult-Rezipienten "selbstbestätigende Stilgemeinschaften" bildeten, die sich in ihrer "Bubble" einschließen und abschotten gegen "informierte Interventionen von außen, etwa aus Kritik und Wissenschaft".
In Gesprächen zum Thema, auch in diesem Feuilleton, versuchte Baßler seine Polemik etwas abzumildern. Er sagte etwa, eine Generalkritik an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur liege ihm fern (F.A.Z. vom 9. Juli 2021).
Nun erscheint von Moritz Baßler ein vierhundertseitiges Buch zum Thema, das dieses historisch herleitet, theoretisch unterfüttert, strukturell erweitert zum medienübergreifenden Phänomen eines "populären Realismus" und an zahlreichen Beispielen der deutschen Gegenwartsliteratur praktisch belegt. Steht Baßler also in einem gewissen Selbstwiderspruch? Ja, aber statt ihn dafür zu kritisieren, sollte man ihm danken für die Ausarbeitung dieses wichtigen Themas und dessen Wendung ins Grundsätzliche. Wer sich zum Beispiel fragt, warum bestimmte Bücher so erfolgreich sind und manche nicht, wer sich fragt, warum bestimmte Bücher mit Preisen bedacht werden und andere nicht, kurz: wer sich für das Wesen aktueller Literatur und ihrer Rezeption interessiert, sollte dieses Buch lesen. Es ist gut verständlich geschrieben, auch für Menschen, die nicht Literaturwissenschaft studiert haben.
Baßler erklärt zunächst seinen Begriff von Realismus. Dieser bezieht sich nicht auf die Welthaltigkeit, sondern auf die ästhetische Machart des literarischen Textes: nämlich eines "völlig verständlichen", der leichte und schnelle Lektüre erlaubt und sozusagen "liegestuhltauglich" ist. Diese Art des Realismus, ruft Baßler in Erinnerung, dominiere heute "beinahe das gesamte Spektrum unserer narrativen Formen, von anspruchslosen Thrillern und Kriminalromanen über die Fantasy-Literatur und den Mainstream des gehobenen Buchmarktes bis hin zu international hochgeschätzten, mit Preisen versehenen Werken".
Was von diesem Erzählstil überdeckt und ausgeblendet wird, sind Formen, wie sie die literarische Moderne hervorgebracht hat, also deutungsreiche und deutungsoffene Texte (im Extremfall etwa die der Expressionisten und Surrealisten), kurz gesagt: eine Literatur, die sich dezidiert als Kunst versteht.
Im analytischen und interpretierenden Teil seines Buches nun legt Baßler auf witzig-polemische Art dar, dass solcherart artistisches Erzählen mittlerweile unter die Räder des Mainstreams geraten sei. In diesem Mainstream erscheinen selbst Texte wie die des Thriller-Bestsellerautors Sebastian Fitzek, die der Kritiker Denis Scheck als "Nulllinie der Literatur" bezeichnet hat, dann strukturell gar nicht so weit entfernt von, beispielsweise, jenen Martin Mosebachs oder Daniel Kehlmanns.
Gewisse Übertreibungen dienen dabei als gezielte Provokation und schaden der Grundthese nicht - im Gegenteil: Man kann Baßler gar nicht genug loben dafür, dass er auf immer neue Weise die wichtigste Frage angesichts des grassierenden "International Style" von heute stellt: Warum fallen so viele Schriftsteller hinter die erzählerischen Errungenschaften der Moderne wieder zurück?
Eine Falle hat Moritz Baßler sich allerdings selbst gestellt: Früh im Buch kommt er darauf zu sprechen, dass die Kritik an der "Kulturindustrie", wie Adorno und die Frankfurter Schule sie geäußert haben (und aus der wohl auch die Kritik am Midcult hervorging), heute elitär wirken könne und daher überkommen sei - ohnehin gebe es für die Kunst längst keinen Ausweg aus der ökonomischen Sphäre mehr, und die Nachfrage regele den Markt. Das Ende der Unterscheidung von hoher und niederer Kultur haben ja zudem die Vertreter des Pop in allen Kunstformen jahrzehntelang gepredigt im Sinne Leslie Fiedlers ("Cross the border, close the gap"), das ist auch Baßler als großem Pop-Kenner sehr bewusst. Ihm nun dabei zuzusehen, wie er einerseits gegen literarische Flachware und deren flache Rezeption polemisiert, andererseits aber bemüht ist, dabei selbst nicht elitär zu wirken, ist mitunter sehr amüsant.
Immer wieder merkt man ihm auch jetzt die Lust an der Zuspitzung an, wenn er etwa die "zeitlos-bäuerliche Welt eines mythischen Ostens" sowohl in der Fernsehserie "Im Angesicht des Verbrechens" als auch in der Literatur von Maja Haderlap ausmacht; wenn er Heinrich Böll in einem Atemzug mit Bernhard Schlink zum Kitschier erklärt, wenn er Karl-Ove Knausgård den "Freifahrtschein zum Midcult" ausstellt oder trotz inzwischen erfolgter Gegenkritik auf seiner Kritik an der Machart von Olivia Wenzels Roman "1000 Serpentinen Angst" beharrt und diesem eine "prästabilierte Frame-Harmonie, die man schon bei Eugenie Marlitt oder Karl May findet", attestiert, die ihn zu einem "superlesbaren Wohlfühltext" mache. Was Baßler daraus generell ableitet, trifft noch so manchen anderen Gegenwartsroman ins Mark: Was immer sich von selbst verstehe, sei "kein würdiger Gegenstand für Literatur".
Auch bei der Darstellung populärer Rezeption von Literatur kann sich Baßler den Spott oft nicht verkneifen. Besonders merkt man das an seiner Beschreibung von Fernseh-Literaturkritik unter der Überschrift "Ferrante-Quartette". Zur Geschichte des "Literarischen Quartetts" schreibt er nach Erwähnung der "auratischen Figur" Marcel Reich-Ranicki: "Heute sitzt die Krimi-Autorin Thea Dorn (bürgerlich Christiane Scherer) einer wechselnden Gruppe von Gästen vor, darunter Autorinnen, Kritikerinnen, Schauspieler und andere Prominente, von deren Präsenz sich das ZDF offenbar ein höheres Interesse des Publikums an Literatur verspricht. In der Sendung vom Dezember 2020 waren eine Comedienne, ein Schauspieler und eine schreibende Tennisspielerin zu Gast."
Dass Baßler im letzten Teil eine Wendung ins Konstruktive vollzieht und den Midcult mit einem Gegenentwurf in Form des "Kalkülromans" (Dietmar Dath) konfrontiert, ist aller Ehren wert. Aber die Hauptleistung dieses Buchs ist seine teils sehr triftige Kritik.
Moritz Baßler: "Populärer Realismus". Vom International Style gegenwärtigen Erzählens.
Verlag C. H. Beck, München 2022. 408 S., br.
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