Besprechung vom 20.02.2022
"Und in Wirklichkeit hast du nichts als Schiss"
Unantastbare Gladiatoren? Der Triathlet Patrick Lange lässt hinter seine Fassade blicken. Zum Vorschein kommt: Ein Mensch mit Ängsten. Und einer, der sie überwindet.
Von Michael Eder
Becoming Ironman - mein Weg zum Weltmeister im Triathlon" - so hat Patrick Lange seine Autobiographie überschrieben, die am Dienstag, 22. Februar, erscheint und mehr hält, als der Titel verspricht. Lange hat 2017 und 2018 die Ironman-WM auf Hawaii gewonnen, aber er erliegt in seinem Buch nicht der Versuchung, nur einen heldenhaften Aufstieg zu beschreiben. Er schildert auch seinen folgenden Abstieg samt tiefer Krisen, Angstzuständen und Panikattacken im Jahr 2019. "Ich will einen Einblick geben, wie ich der geworden bin, der ich bin", sagt er im Gespräch mit der F.A.S. "Ich möchte, dass mich die Leute endlich auch in der Tiefe kennenlernen."
Von vorn: Lange beginnt seine Triathlonkarriere, wie üblich, auf der olympischen Kurzstrecke, mit Erfolgen, aber ohne Aussicht auf einen Sprung in die Weltspitze. 2012 wagt er sich in Wiesbaden an die Mitteldistanz über 1,9 Kilometer Schwimmen, 90 Kilometer Radfahren und 21 Kilometer Laufen. Platz sieben. In Luxemburg wird er Zweiter. 2014 startet er bei der Mitteldistanz-WM in Mont-Tremblant in Kanada, stürzt mit dem Rad, muss fünf Wochen Pause machen. Nach und nach verabschieden sich die wenigen Sponsoren, die er hat, bis nur noch einer übrig ist. Der gibt ihm 3000 Euro - pro Jahr. 2015 trifft Lange eine Entscheidung. Er will auf die Langstrecke. 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren, 42,195 Kilometer Laufen. Die Königsdisziplin. Er findet einen Sponsor, der ihm für das erste Jahr 15 000 Euro gibt. Er spart, wo er kann, zieht aus seiner Darmstädter Wohnung in eine Dreier-WG. Bei einem Trainingslager auf Lanzarote lernt er den Münchner Faris Al-Sultan kennen, den Hawaii-Champion von 2005. Al-Sultan wird sein Trainer. Lange gibt seinen Halbtagsjob als Physiotherapeut auf. Jetzt geht es um alles. Oder nichts. Am Telefon blickt er auf diese Zeit zurück:
"Ich habe lange zwischen den Welten gelebt. Eigentlich habe ich immer das ganze Geld, das ich als Physiotherapeut verdient habe, und die ganze Zeit, die übrig blieb, in Triathlon investiert. Meine Hauptleistung war, dass ich über zehn Jahre immer daran geglaubt habe, dass das meine Zukunft ist. Dass ich immer weiter gemacht habe, obwohl ich von der Hand in den Mund gelebt habe. Alles hing am seidenen Faden. Es gibt ja viele, die die Leistungsfähigkeit haben, aber bei denen das Pendel zur falschen Seite ausschlägt. Das ist das Gnadenlose am Leistungssport. Ein Platten, eine Verletzung, ein Zufall kann alles zunichtemachen."
Zu seiner ersten Langdistanz fliegt Lange 2016 nach Texas. Er gewinnt. Nicht nur sein Sieg lässt aufhorchen. Auch seine überragende Marathonzeit: 2:40 Stunden. Lange kassiert nach Abzug der Steuern 25 000 Dollar Preisgeld. Das Beste aber: Er hat sich für die WM auf Hawaii qualifiziert. Hawaii! Das Ziel aller Träume im Triathlon. Lange wird dort auf Anhieb Dritter, knackt in 2:39:45 Stunden die 27 Jahre alte Marathonbestzeit des legendären Mark Allen. Die Durststrecke ist vorüber. Sponsoren klopfen an. Lange kann sich in Darmstadt wieder eine Wohnung leisten. Bekommt Autogrammkarten. Er ist jetzt ein richtiger Profi. Einer, der ahnt, dass er Hawaii gewinnen kann.
2017 trainiert Lange trotz einer Fußverletzung immer weiter und kann schließlich wochenlang nicht laufen, nicht einen Schritt. Zum Ironman in Frankfurt, dem nach Hawaii wichtigsten Rennen, ist er körperlich wieder fit. Aber der Kopf spielt nicht mit. Zum ersten Mal überkommt ihn Angst. Panik. Er startet, wird Sechster. Im Ziel kaum eine Regung. Kraftlos in Körper und Kopf. Monate später, bei der WM auf Hawaii, ein Déjà-vu: wieder Panik am Vorabend. Alles fühlt sich zu schwer an, zu viel. Er sei überzeugt gewesen, nicht starten zu können, schreibt er, und doch startet er. Nach dem Radfahren ist er Zehnter. Im Ziel ist er Erster. Er gewinnt das größte aller Rennen. Im Jahr darauf sein zweiter Sieg auf Hawaii, mit Streckenrekord diesmal. Er wird Sportler des Jahres. Der Triathlon-Himmel tut sich auf. Mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Weltmeister! Ganz oben! Was macht das mit einem? Was macht das mit ihm?
"Ich war zunächst nur megaglücklich. Es war, als wäre ich von der Bimmelbahn in einen Schnellzug umgestiegen, und der fährt und fährt, und du bekommst gar nicht mehr richtig mit, was alles an dir vorbeirast. So hat sich das angefühlt. Das Beste daran war, dass die Zeit der Entbehrungen, das Auf-dem-Zahnfleisch-Kriechen vorbei war. Es war aufregend, manchmal beängstigend. Es war auch eine Genugtuung. Ein erhabenes Gefühl, erreicht zu haben, wofür ich so lange gekämpft hatte."
Wenn es nicht besser werden kann, wird es schlechter, schreibt Lange in seinem Buch. Und es wird schlechter, viel schlechter. 2019 wird für ihn, den gerade noch strahlenden Champion, zum Horrorjahr. Er kann sein sportliches Niveau nicht halten. Zu viele Termine, zu viel Ablenkung, zu viel anderes im Kopf. Die Angst kommt zurück, mit voller Wucht. Die Angst, alles wieder zu verlieren. Die Angst zu versagen.
"Wenn du das Gefühl hast, die ganze Welt steht dir offen und plötzlich läuft es nicht mehr, plötzlich ist Sand im Getriebe, dann kommt die Angst, alles wieder hergeben zu müssen. Die Angst, dass du aufwachst aus einem Traum und merkst, das war alles nicht wahr. Das ging so weit, dass ich irgendwann gesagt habe, ich kann nicht mehr, sogar dann, wenn die Form ganz gut war. Ich stand mir selber im Weg, entwickelte leicht depressive Züge. Ich kam in eine Negativspirale. Es gab Angstschübe. Panikattacken. Das war eine harte Zeit. Ich habe gelitten. Und dann musst du vor einem Rennen zur Pressekonferenz. Sagst, ich bin heiß und stark und motiviert. Und in Wirklichkeit hast du nichts als Schiss."
Langes Leben wird zum Rollenspiel. Zum Spagat: Hier der Mensch, dort der Leistungssportler. Der eine ist schwach, der andere spielt den starken Mann. Dann wird alles noch viel schlimmer. Seine Mutter bekommt eine fürchterliche Diagnose: Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Wie damit umgehen als Mensch, als Sportler? Als mitfühlender Sohn und als Champion, der nur Stärke zeigen darf?
"Was sollte ich tun? Sollte ich mich hinstellen und sagen, meine Mutter hat Krebs und wird bald sterben? Ich wollte das nicht, ich wollte nicht, dass meine Mutter das liest. Ich wollte sie aus der Öffentlichkeit raushalten. Es hätte ja auch wie eine Entschuldigung für meine Schwäche geklungen. Rund um den Frankfurter Ironman 2019 lag meine Mutter in einem Frankfurter Krankenhaus. Von ihrem Bett bin ich zur Pressekonferenz vor dem Rennen gefahren, habe mich hingestellt und gesagt: Ich bin stark, ich zeig's euch allen. Ich habe diese Rolle gespielt, ich habe keine andere Chance gesehen. Nach der Pressekonferenz bin ich zurück ins Krankenhaus."
Das Frankfurter Rennen wird für Lange zum Fiasko. Jan Frodeno, sein größter Konkurrent, ist 50 Minuten schneller als er. Er überrundet ihn. Die Kritiken sind harsch. Lange wird an seiner sportlichen Leistung gemessen. An seinen Ansagen. Er taucht ab. Nur sein engstes Umfeld weiß, wie es ihm wirklich geht. Heute sagt er:
"Ein Sportler ist nicht nur eine Maschine, die immer auf hundert Prozent läuft. Es wird aber erwartet, dass er keine Schwäche zeigt. Gerade der Ironman hat es ja schon im Namen: der Mann aus Eisen. Es wäre gut, wenn wir alle etwas nahbarer würden, wenn wir auch mal die menschliche Seite zeigen könnten, einen Einblick in unsere Gefühlswelt. Vielleicht ist es ja auch so, dass wir allmählich aus dem Zeitalter der unantastbaren Gladiatoren hinauswachsen. Dass nachdenklichere Töne zugelassen werden."
2019 ist Lange noch nicht so weit. Nach Frankfurt wächst der Druck weiter, der Zwang, das Negative, die Angst.
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"Man versteht sich in dieser Situation selbst nicht mehr. Man hat nur noch Wust im Kopf. Man trainiert, aber ist meilenweit von dem entfernt, was man im Jahr zuvor gemacht hat. Das ist dann der nächste Nagel im Sarg. Es macht einen fertig."
Hawaii 2019 wird zum dunkelsten Kapitel in Langes Karriere. Er gibt beim Radfahren auf, bringt nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich. Wieder taucht er ab. Bleibt sprachlos. Später führt er gesundheitliche Gründe an. Er tut dies viel zu spät, um zuvor nicht wieder, wie schon in Frankfurt, Spekulationen zu befeuern, er sei auf höchstem Niveau nicht mehr konkurrenzfähig. Lange ist am Tiefpunkt angekommen - und zieht die Konsequenzen. Er trennt sich von Faris Al-Sultan, seinem Trainer. Ihm hat er viel zu verdanken, aber nun will er einen anderen Weg gehen. Statt des knorrigen Bayern trainiert ihn seit Ende 2019 der Sportwissenschaftler Björn Geesmann.
"Ich brauchte neuen Input, im Training, in allen Bereichen. Wir hatten vieles falsch gemacht, auch was die Kommunikation betraf, das hat extrem viel Energie gesaugt. Björn Geesmann hat mich nur genommen unter der Prämisse, dass ich mich auch mit einem Sportpsychologen auseinandersetze. Dabei habe ich schnell gelernt, wie sinnvoll es ist, sich dabei helfen zu lassen, seine Gedanken zu ordnen."
Trotz seiner Angstzustände hatte Lange zuvor nie mit Sportpsychologen oder Mentaltrainern gearbeitet. Worum ging es nun?
"Am Beispiel meiner Angst vor dem Frankfurter Ironman haben wir analysiert, wovor ich eigentlich Angst hatte. Tatsächlich hatte ich Angst davor, Angst zu haben. Wenn du dich an diesem Angstgedanken festbeißt, wenn du immer wieder auf ihm rumdenkst, weil du ihn nicht zulassen willst, weil du ja der harte Mann bist, dann kriegst du Angst vor der Angst. Ich habe jetzt gelernt, dass es in Ordnung ist, auch mal Angst zu haben. Dass man sie losgelöst von seinen anderen Gedanken betrachten muss. Dass sie auch eine Art ist, Spannung aufzubauen. Ich habe gelernt, dass Gedanken kommen und gehen. Akzeptieren, durchatmen, analysieren. Und dann geht es weiter. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Das hat mir viel gebracht."
Welchen realen Kern hat diese Angst? Ist es Angst vor Konkurrenten, vor einem wie Frodeno, der vor Siegesgewissheit nur so strotzt?
"Sie ist nicht auf Personen bezogen, nein. Sie hat nur mit mir selber zu tun. Es ist die Angst, meine Leistung nicht zu bringen. Dass ich denke, ich kriege nur 200 Watt aufs Pedal, werde komplett abgehängt und danach medial durch den Fleischwolf gedreht. Das ist die reale Seite der Angst."
Die Arbeit mit Geesmann hat Wirkung gezeigt. Lange ist nicht nur mental viel stabiler geworden, auch athletisch, vor allem auf dem Rad. Obwohl 2020 und 2021 neben Hawaii auch viele andere große Rennen ausfielen, konnte er neue Stärke beweisen. Das begann 2021 bei der Mittelstrecke auf Gran Canaria mit einem vierten Platz. Dann gewann er überlegen die Langdistanzen in Tulsa in den Vereinigten Staaten und den Klassiker in Roth. In Tulsa lief er den Marathon in überragenden 2:36 Stunden. Im Zielinterview sprach er zum ersten Mal öffentlich über die Krankheit und den Tod seiner Mutter, die Anfang 2020 starb. Dieses Aussprechen, schreibt er, habe sich angefühlt wie eine Erlösung.
"Ich hatte es geschafft. Sportlich und als Person war ich zurück. Ich bin kein Getriebener mehr."
Die neue Saison kann kommen. Wenn Corona es zulässt, wird es gleich zwei Weltmeisterschaften geben: eine im Mai in Utah, die andere, viel wichtigere, im Oktober auf Hawaii. Patrick Lange fühlt sich bereit dafür. Als Mensch und als Sportler.
Patrick Lange
Becoming Ironman
Mein Weg zum Weltmeister im Triathlon.
Riva Verlag. München 2022. 256 Seiten.
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