Rachel Soost erzählt in ihrem Roman die wunderbare Liebesgeschichte von Luise und Bernie vor der authentisch geschilderten Kulisse Berlins im Jahr 1924. Genau 100 Jahre ist es her, dass sich diese beiden außergewöhnlichen Menschen begegneten und ihre Liebe gegen alle Widerstände verteidigten. Bernie ist Jude, Luise Christin - in einer Zeit, in der der ohnehin schon vorhandene Antisemitismus inflationär zunimmt und in offene Anfeindungen und gewalttätige Übergriffe umschlägt.
Das Buch hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen. Der Autorin gelingt es, das Berlin der 20er Jahre plastisch und mit allen Sinnen zu beschreiben - man steht mit der Protagonistin hilflos am Berliner Bahnhof, als sie aus Heidelberg kommend zum ersten Mal die Großstadt betritt, staunt über das Gewimmel, nimmt den Geruch der Kanäle und die Geräuschkulisse in sich auf. Es sind solche Bücher, die mir etwas geben, die mich authentisch in eine andere Zeit versetzen und aus denen ich etwas lerne. Ein Buch, das bleibt. Meine Lernkurve war steil. Ich wusste nicht, dass es schon in den zwanziger Jahren ein Pogrom im Berliner Scheunenviertel gegeben hatte. Ich wusste nicht, welches Ausmaß die Verfolgung schon damals hatte, als jüdische Mitbürger noch nicht mit einem Stern gekennzeichnet waren.
Außergewöhnlich ist auch, dass die Autorin uns über Instagram unter schwarzgraubunt an ihrer über zehnjährigen akribischen Recherche teilhaben lässt und mittlerweile als anerkannte Spezialistin anderen Autoren und Menschen bei der Erforschung ihrer eigenen Familiengeschichte während des Holocaust zur Seite steht. Allein diese Recherche, die Art und Weise, wie in mühsamer Kleinarbeit eine Familiengeschichte zusammengetragen wird, liest sich wie ein Krimi.
In einer Zeit, in der es immer weniger Augenzeugen gibt, werden Sekundärzeugen, Menschen der nachfolgenden Generationen, die sich an Erzählungen erinnern oder Zugang zu Primärquellen haben oder suchen, und diese auch veröffentlichen, zunehmend wichtiger.
Der Roman dürfte erwachsenen Lesern gefallen, die Die Kinder von Beauvaillon von Bettina Storks oder Die Postkarte von Anne Berest mögen und ist eine wunderbare und wichtige Schullektüre für Jugendliche.
Fazit: Fantastisch, ein großartiges Leseerlebnis, sehr empfehlenswert.