»Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg. «
Die Diskussion über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West flammt immer wieder auf. Sei es anlässlich runder Jubiläen, sei es nach Protesten - oder nach Wahlen. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte. Sie dreht sich im Kreis, auf Vorwürfe folgen Gegenvorwürfe: »Ihr seid diktatursozialisiert! « - »Ihr habt uns ökonomisch und symbolisch kleingemacht! «
Im November 2024 jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Bereits zuvor konnte die AfD aus der Landtagswahl in Thüringen als stärkste Partei hervorgehen, aus den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen als zweitstärkste. In dieser Lage meldet sich der »gefragteste Gesellschaftsdeuter im Land« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) mit einer differenzierten Intervention zu Wort.
Steffen Mau setzt sich mit prominenten Beiträgen auseinander und widerspricht der Angleichungsthese, laut der Ostdeutschland im Lauf der Zeit so sein werde wie der Westen. Aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren wird der Osten anders bleiben - ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betrifft. Angesichts der schwachen Verwurzelung der Parteien plädiert Steffen Mau dafür, alternative Formen der Demokratie zu erproben und die Menschen etwa über Bürgerräte stärker zu beteiligen.
NDR Sachbuchpreis 2024 (Longlist)Besprechung vom 09.06.2024
Bewegliche Ziele
Was, wenn es gar nicht darum geht, Westen und Osten anzugleichen? Steffen Mau sucht nach Alternativen in der deutschen Debatte.
Von Tobias Rüther
Zu viele Männer. Bevölkerungsschwund. Mangelndes zivilgesellschaftliches Engagement. Schwach ausgebildete Resilienz bei starkem Sendungsbewusstsein. Anfälligkeit für populistische Positionen. Minimale Repräsentanz in den Eliten. Ungleich verteiltes Vermögen. Und als Perspektive: dass sich all das nur langsam, zu langsam oder gar nicht ändert.
Trägt man die Punkte zusammen, die Steffen Mau in seiner Analyse der ostdeutschen Gesellschaft von heute, fünfunddreißig Jahre nach dem Mauerfall, getroffen hat: Da wirkt die Liste erst mal altbekannt, wie die Bestätigung der Klischees, die seit der Wiedervereinigung das Bild vom Osten prägen. "So isser, der Ossi", titelte der "Spiegel" vor bald fünf Jahren auf seinem Cover. Aber der Berliner Soziologe Steffen Mau könnte nicht weiter entfernt davon sein. Er hat einen ressentimentfreien Beitrag zu einer Debatte geschrieben, die gesättigt von Ressentiment ist. Und er schafft es dabei, mit interessiertem Blick auf diese Ressentiments zu schauen (dass der Osten ein Problem mit dem Rechtsstaat habe, beispielsweise) und sie auf Wahrheitsgehalt und böse Absichten zu prüfen, ohne sofort Vorwürfe zu erheben - sodass am Ende sogar ein Befreiungsschlag aus der schlechten Laune dabei herauskommt.
Dass man dieses kurze Buch fast schon zuversichtlich zuschlägt: Es liegt am Ton und der Haltung, die Steffen Mau nicht nur vormacht, sondern auch vom Publikum zurückverlangt. Er erwartet einen Schritt zurück beim Blick auf die Gegenwart, weil er den Schritt selbst macht. Und es spricht viel dafür, dass es entscheidend darum geht: um eine veränderte Tonlage und Haltung. Mau bittet nicht nur um gedankliche Flexibilität im Umgang mit den Konflikten und Diskursen - er gewinnt sie auch zurück, indem er selbst mit gedanklicher Flexibilität einen Konflikt nach dem anderen prüft. Wie gewaltig er ist, ob er für immer bleiben wird, ob wir damit auch gut leben könnten - oder es vielleicht eine Lösung geben könnte, die nicht nur alle mitnimmt, sondern sie auch zur Verantwortung zieht und damit aufwertet.
"Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt", heißt Steffen Maus neues Buch. Der Titel könnte einem Wutbürger aus Anklam oder dem Erzgebirge sofort die Halsschlagader anschwellen lassen: Ungleich? Anders? Also: nicht normal? Aber gemessen woran? Am Westen? Ist der also immer noch das Maß aller Dinge, die "Referenzgesellschaft", an deren Sitten und Gebräuche sich alle zu halten haben? Und was heißt "bleibt anders" - wird der Osten also aufgegeben? Wo sich der Westen ja sowieso schon lange nicht mehr für die Schwestern und Brüder im Osten interessiert?
Aber es steckt auch eine optimistische Gelassenheit im Titel, und in dieser Ambivalenz entspricht er dann auch der ambivalenten Lage, in der sich das Land in den Augen von Mau befindet. Wir leben in einer "geteilten Einheit", und das ist erst mal so, wie es ist, und es "bedeutet keinesfalls, dass wir in einer Art Zweigesellschaftlichkeit oder gespaltenen Gesellschaft angekommen sind, in der es gar kein inneres Band gibt oder zwei Großkollektive unverbunden nebeneinander existieren. Es bedeutet vielmehr, dass innerdeutsche Disparitäten und Ungleichzeitigkeiten fortbestehen, die sich entlang der Achse Ost-West ausgebildet haben."
Im vergangenen Herbst hatte der Soziologe gemeinsam mit seinen Kollegen Thomas Lux und Linus Westheuser von der Berliner Humboldt-Universität eine viel beachtete Studie herausgegeben: "Triggerpunkte" ist der Versuch, aus der Vorstellung einer polarisierten Gesellschaft auszubrechen, die verkeilt scheint im Streit um gendergerechte Sprache, Asylobergrenzen, Klimapolitik, Integration, Rente. Näher an der Wirklichkeit und hilfreicher sei es, von vielen unterschiedlichen "Ungleichheitsarenen" auszugehen, um die Vielfältigkeit der Konflikte auszuloten zu können. Denn es finden sich nicht immer alle auf der gleichen Seite der Konflikte wieder. Das neue Buch, erklärt Mau, könne jetzt wie ein Nachschub zu diesen "Triggerpunkten" gelesen werden. Ursprünglich hätten die Autoren erwogen, den Ost-West-Konflikt mit aufzunehmen, er sei aber zu eigen und erfordere seine eigene Herangehensweise. Und wohl deswegen auch steht am Ende dieses Buchs des gebürtigen Rostockers Mau keine abschließende Analyse, sondern ein handfester Vorschlag zur Verbesserung der Lage. Wie Mau selbst sagt: "Es ist eine kleine politische Schrift zu Gesellschaft, Politik und Demokratie in Ostdeutschland."
Die Debatte um West und Ost ist seit einiger Zeit interessanter als je zuvor seit 1990, weil es auf eine neue Weise um Deutungshoheit geht - und das nicht mehr nur zwischen West und Ost, sondern ost-intern, sozusagen. Dabei geht die Debatte immer wieder von der Literatur aus: vom Booker-Prize für Jenny Erpenbecks Roman "Kairos" zum Beispiel, den der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in der "taz" jetzt als "Ostdeutschtümelei" bezeichnet hat. Aber auch von den Romanen jüngerer Autorinnen, weil sie neue Impulse in der Auseinandersetzung um das totalitäre Erbe der DDR setzen - wie Charlotte Gneuß in ihrem komplexen Stasi-Psychodrama "Gittersee". Oder weil sie die Rolle der Gewalt analysieren - wie Anne Rabe. Auch den Roman "Simone" von Anja Reich zählt Mau dazu, eine Freundschaftsgeschichte aus dem Ost-Berlin der Achtzigerjahre.
Literatur jedenfalls scheint die Ambiguitätstoleranz der Deutschen herauszufordern, die dringend nötig ist. Die Autorin Anne Rabe, geboren 1986 in Wismar, ist seit Erscheinen ihrer Familiengeschichte "Die Möglichkeit von Glück" ununterbrochen im ganzen Land unterwegs, um aus dem Roman zu lesen. Er erzählt von Gewaltkontinuitäten ostdeutscher Milieus vor und nach dem Mauerfall. Rabe hat immer wieder öffentlich auf das Schweigen zwischen den Generationen hingewiesen, auf die Notwendigkeit einer selbstkritischen ostdeutschen Bestandsaufnahme. Kürzlich hat ihr der Linguist Stefan Müller in einer Polemik in der "Berliner Zeitung" unterstellt, einen sachlich mangelhaften Roman geschrieben zu haben, und Rabe für die Rezeption dieses Buchs verantwortlich gemacht. Denn der bediene vor allem ein westdeutsches Publikum: "Endlich könne man die DDR verstehen! Fast niemand hat die Fehler bemerkt. Weil es so eine schöne Geschichte ist, die zu allem passt, was man über Dunkeldeutschland zu wissen glaubt."
Müller beendet seine Polemik mit dem Satz: "Viele Details, die zeigen, wie schlimm es damals war, waren im Westen genau so." Selbst wenn das stimmte, was hilft es bei der Aufarbeitung des Unrechts auf beiden Seiten? Der Westen dient auch hier als "Referenzgesellschaft" - auch dieser persönliche Angriff auf die Autorin offenbart die Notwendigkeit einer innerostdeutschen Debatte. Die "Berliner Zeitung" hat sie in der Weise begonnen, dass sie starke kritische Reaktionen von Leserinnen und Lesern auf Müllers Text abdruckte, Müller hat sie in seinem Blog kommentiert.
Für das Ausbleiben einer innerostdeutschen Auseinandersetzung nach dem Mauerfall hat Steffen Mau eine Erklärung parat: Er spricht "vom permanent anwesenden Publikum" des Westens, "für die Ostdeutschen" sei nach dem Mauerfall "kein klärendes Gespräch 'unter sich' (oder 'unter uns') möglich gewesen". Zudem sei auf die "Selbstermächtigung im Herbst 1989" eine "Selbstentmachtung in unmittelbarer zeitlicher Nähe" gefolgt, "freiwillig und sehenden Auges", als mit den ersten freien Wahlen und der Wiedervereinigung Parteien aus dem Westen in den Osten einzogen, wo sie, bis heute, nicht tief in der Gesellschaft wurzeln.
Die neueren Bestseller von Dirk Oschmann und Katja Hoyer über "den Osten" nennt Mau wiederum "Mentalpflegetexte, da sie das Lesepublikum in seinen Alltagsgefühlen bestätigen und nicht fordern möchten". Mau will genau das nicht tun. Er etabliert vielmehr eine Position, von der aus möglich ist, von Unterschieden zu sprechen, ohne sie zu werten, zu betonieren, zu relativieren oder zu dämonisieren: "Ostdeutschland ist kein wertemäßiger Monolith und doch in vielerlei Hinsicht unterscheidbar." Zudem verändere auch der Westen sich, Mau nennt ihn ein "moving target", ein bewegliches Ziel. Und dann stellt er eine entscheidende Frage: "Wo wünschen wir uns denn wirklich ein Verschwinden von Unterschieden und ein Aufschließen des Ostens zum Westen? Bei der Rente und den Einkommen ja, aber bei den Mieten, der Schulqualität oder dem Gender-Pay-Gap bitte nicht. Bei der Produktivität, den Spitzenjobs und den Vermögen ja, aber nicht bei der Beschäftigungsquote von Frauen, der Kita-Abdeckung, dem Anschluss von Wohnungen an Fernwärmenetze oder der Theaterdichte, die im Osten höher sind."
Der Abschied von nicht erreichbaren Zielen, von Feiertagsbeschwörungen einer mit sich selbst versöhnten deutschen Gesellschaft durchzieht auch dieses Buch. Je länger es dauert, desto stärker rückt der wahre Gegner eines gewandelten Umgangs mit den Konflikten in den Blick: die populistischen und rechtsextremistischen Kräfte um die AfD, die Scheinantworten auf die "Parteienpolitikverdrossenheit" geben und die "zivilgesellschaftliche Formschwäche" ausnutzen. Ehrenamtliches Engagement im Osten zeige sich nicht im regen Stiftungsleben, sondern im Ehrenamt, bei der freiwilligen Feuerwehr und der Handwerkskammer, die von rechts "infiltriert" werden. "In Ostdeutschland hat sich eine eigene politische Kultur ausgebildet, die noch eine lange Zeit bestehen wird, unabhängig davon, was sich die Politik wünscht", schreibt Mau. Und sie setzt nicht auf Parteien, sondern auf die Unmittelbarkeit der Willensdurchsetzung, auch ein Erbe von 1989: "Die Straßen und Plätze, so kann man wohl annehmen, bleiben in Ostdeutschland auch zukünftig bedeutende Orte der politischen Auseinandersetzung."
Wenn die Lage so ist, wie sie ist, müssen neue Ideen her, regional flexibel, und Steffen Mau schließt sein Buch deswegen also mit einem Vorschlag, um "im Kleinen das einzuüben, was im Großen diskursiv oft nicht gelingt": Er plädiert für die Einrichtung und Stärkung von Bürgerräten in Ostdeutschland, per Losverfahren besetzt, um Entscheidungsprozesse zu begleiten: Der Bund hat das im vergangenen Jahr schon mit einem Rat für Ernährungspolitik probiert, der eine Richtschnur für die Politik formuliert. In einem solchen Rat, schreibt Mau, könnten Menschen "Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, die ihnen sonst oft verwehrt bleiben". Kompromisse statt Radikalisierung, Austausch statt Ideologie: Es wäre ein Anfang: "Was ein Bürgerrat wohl im Hinblick auf den Ostberliner Palast der Republik empfohlen hätte - ebenfalls Abriss und Wiederaufbau des Stadtschlosses?" Mau endet mit einer typischen Pointe: "Ein Transfer erfolgreicher Modelle in den Westen wäre dann womöglich eine Art verspäteter Beitrag der Ostdeutschen zur institutionellen Weiterentwicklung der gesamtdeutschen Demokratie." Und dann hätten alle was davon, ein vereintes Land zu sein.
Steffen Mau, "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt". Suhrkamp, 168 Seiten
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