Besprechung vom 20.05.2023
Apokalyptiker und Katalysator
Der Ausnahmezustand ist die neue Normalität, nicht nur klimatisch, auch persönlich: T. C. Boyle setzt mit dem Roman "Blue Skies" seine Beobachtung des Rachefeldzugs der Natur gegen den Menschen fort.
Diesmal hat sein deutscher Verlag den Wettlauf um die Erstpublikation des neuen Romans von T. C. Boyle nicht gewonnen: "Blue Skies" kam in den Vereinigten Staaten noch vor der Übersetzung heraus - wenn auch nur einen Tag früher. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. In den letzten Jahren hatte man sich bei Hanser Mühe gegeben, Boyles Bücher als die eines der hierzulande erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller möglichst als Erste herauszubringen, denn man fürchtete signifikante Verkaufsverluste durch die leicht zugänglichen (kommerziell wie sprachlich) englischen Ausgaben - "Das Licht" ging 2019 auf Deutsch gar gleich einige Monate dem Original namens "Outside Looking" voraus. Doch dieses Bemühen, das im Zweifelsfalle auf Kosten der übersetzerischen Qualität selbst bei einem derart versierten und (Boyle-)erfahrenen Mann wie Dirk van Gunsteren zu gehen droht, scheint nunmehr aufgegeben. Gut so, der Kuchen ist im Falle Boyles groß genug für alle.
Das liegt daran, dass seine Leser seit mehr als vierzig Jahren wissen, was sie an dem 1948 geborenen Schriftsteller haben: den großen Erzähler der Zivilisationsskepsis. Oder besser und konkreter gesagt: des Umschlags des American dream in einen amerikanischen Albtraum. Nur Boyles Erstling, der historische Roman "Wassermusik", spielte außerhalb der Vereinigten Staaten, und bis auf den ebenfalls frühen "World's End" (1987) sind sämtliche anderen siebzehn Boyle-Romane im zwanzigsten Jahrhundert oder der Gegenwart angesiedelt ("Ein Freund der Erde", erschienen 2002, gar teilweise in naher Zukunft). Sie ergeben durch ihre Mischung aus prominenten biographischen Stoffen (über popkulturell so bedeutende Figuren wie John Harvey Kellogg, Alfred Charles Kinsey, Frank Lloyd Wright oder Timothy Leary) und bürgerlichen Gesellschaftsporträts im Gesamtbild das Panorama einer Weltmacht, die im eigenen Haus an den inneren Widersprüchen ihres individualistischen Ideals scheitert.
So auch wieder in "Blue Skies". Am einen Ende des Landes, in Kalifornien, brennen pausenlos die Sonne und die ausgetrocknete Vegetation, am anderen, in Florida, das sich selbst als "Sunshine State" apostrophiert, hört es kaum mehr auf zu schütten. Das Klima spielt verrückt, aber alle wissen, dass das die neue Normalität sein wird. "Alle", das sind in diesem personell sehr konzentrierten Roman an der Westküste die Cullens, ein am Ende seines Erwerbslebens stehendes Ehepaar mit zwei erwachsenen Kindern, und an der Ostküste die Rivers als junges verliebtes Paar - Todd ist Markenbotschafter des Rumherstellers Bacardi, Cat die Tochter der Cullens (und sonst nichts, worunter die Mittzwanzigerin leidet; Influencerin wäre sie schon gerne).
Mit ihr hebt der Roman an, der sich im Folgenden kapitelweise abwechselnd auf drei Perspektiven einlässt: neben Cats noch die ihrer Mutter Ottilie und ihres Bruders Cooper. Boyle erweist sich dabei einmal mehr als Virtuose dieses dreifach vereinzelten Weltblicks: "Was war das nur, was lief da falsch?", fragt sich Ottilie: "Wo war die Welt, in der sie aufgewachsen war, in der es regnete, wenn es regnen sollte, und auf jeder weißen Kleeblüte in jedem Garten der Nachbarschaft eine Biene saß?" Ihren Sohn Cooper wundert das dagegen weniger. Er ist Biologe und Apokalyptiker; angesichts von Wetterkapriolen und Insektensterben sieht er sich bestätigt. Pech nur, dass ihn ein infizierter Zeckenbiss einen halben Arm kostet. Ganz so individuell apokalyptisch hatte er sich die düstere Zukunft nicht vorgestellt.
Aber beider Schicksal ist nichts gegen das von Cat, die im Mittelpunkt von zwölf der insgesamt 26 Kapitel steht. Der Kauf einer ihr zauberhaft schön erscheinenden Würgeschlange setzt eine Ereignisabfolge in Gang, die Boyle meisterhaft in Szene zu setzen weiß: weil durch die Schlange ein steter Suspense besteht, der sich aber erst in unerwartetem Moment konkretisiert. Und das dann in einer Drastik, die bislang nicht das Kennzeichen des Ironikers T. C. Boyle war. Merkmal seines Schreibens, vor allem in den ebenfalls zahlreichen Kurzgeschichten, war ja stets das nur angedeutete, zuletzt meist doch offengelassene Desaster. Das erste Kapitel von "Blue Skies" würde isoliert eine solch typische Boyle-Short-Story bieten: Anders als bei Dürrenmatt sind seine Geschichten im Regelfall schon dann zu Ende erzählt, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung gerade erst eingeschlagen haben.
Hier also geht es weit darüber hinaus, und man mag darin die Desillusionierung des nunmehr betagten Zynikers Boyle erkennen. Vielleicht auch eine bei ihm ungewohnte erzählerische Ungeduld. Wie er Todd und Cat sich entzweien lässt, das ist diesmal weniger subtil als von Beginn an klischeebehaftet, und es verbindet sich mit der ökologischen Zwangslage nur insofern, als Todds Tesla eine Funktion im Handlungsgefüge zugesprochen bekommt, die eine Brücke zur alten automobilaffinen Gesellschaft in den USA schlägt. Gerade das aber wirkt eher wie ein Abgesang auf den Amerika-Analytiker Boyle, der seine Inspiration immer aus dem eigenen Lebenshorizont bezogen hat. Mittlerweile sind seine eigenen Kinder jedoch über das Alter von Todd und Cat hinaus, und so wirken diese beiden eher nicht wie ein zeitaktuelles postpandemisches Paar, sondern wie ein Relikt aus dem hedonistischen Jahrtausendbeginn, wenn nicht gar aus noch weiter zurückliegender Zeit.
Trotzdem wird "Blue Skies" das große Publikum von T. C. Boyle erfreuen, denn der Roman bietet über die jeweils ungeplante Rache der Natur und die Hybris der Menschen die Kernbotschaft dieses Schriftstellers in nochmals konzentrierter Form - als Essenz eines engagierten Erzählers, der deshalb in seiner sorglos-selbstverliebten amerikanischen Heimat weitaus weniger geschätzt wird als in Deutschland. Und in seinen Spott mischt sich diesmal mehr als jemals zuvor Verzweiflung, und zwar über das Versagen des einzigen Antidots gegen die Weltvergiftung, an das Boyles Figuren stets geglaubt haben: die Liebe. Hier erstmals vorgeführt als Mutterliebe - und das dann in doch sehr subtiler Form gleich doppelt. Wie sich Cat und Ottilie aufeinander beziehen, das ist unbedingt lesenswert, und wie Cooper sich dabei ungewollt als Katalysator erweist, auch. ANDREAS PLATTHAUS
T. C. Boyle: "Blue Skies". Roman.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2023. 399 S., geb.
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.Es wurden noch keine Bewertungen abgegeben. Schreiben Sie die erste Bewertung zu "Blue Skies" und helfen Sie damit anderen bei der Kaufentscheidung.