Besprechung vom 03.02.2021
Eine Disziplin, die zur Vergesslichkeit neigt
Werturteile müssen schon auch erlaubt sein: Ulrich Pfisterer legt eine anregende Einführung in die Kunstgeschichte vor
In seiner "Geschichte der Kunst des Alterthums" entwirft Johann Joachim Winckelmann 1764 den "Versuch eines Lehrgebäudes" der Kunst, das nicht weniger als "den Ursprung, das Wachsthum, die Veränderung und den Fall derselben" zur Darstellung bringen sollte. Am Beginn stand die Einsicht, dass die Kunst zuallererst gründlich vergangen sein musste, um auf der Basis dieses Verlusts ihre Geschichte schreiben zu können. In einer berühmten Passage des Buches nimmt Winckelmann Abschied von der Kunst, nachdem er deren Schicksal bis in den "Untergang derselben" verfolgt hatte - ohne Hoffnung, dass sie jemals wieder zu ihrer einstigen Größe zurückfinden könne.
Als Winckelmann im zweiten Kapitel dann aber zur Beschreibung des Apoll vom Belvedere kommt, ist es mit dem Willen zur historischen Relativierung vorbei: Der Tonfall wechselt ins Poetische, statt von der Errichtung eines Lehrgebäudes ist von Begeisterung die Rede, und in ihrer unmittelbaren Betrachtung scheint die Skulptur des Apoll "Leben und Bewegung zu bekommen".
Hier war in einem der Gründungstexte der Kunstgeschichte eine Grundspannung angelegt, die das Fach auch heute beschäftigt: Wie verhält sich die Geschichtlichkeit der Werke zu ihrer physischen Gegenwart? Wie lassen sich das Verständnis der Kunst als Zeugnis der Vergangenheit und ihr ästhetisches Erleben im Jetzt der Betrachtung verbinden? Es sind Fragen wie diese, die Ulrich Pfisterer in seiner Einführung in die Kunstgeschichte in Erinnerung ruft. Statt einen weiteren Methoden-Reader, eine weitere Einführung in das Studium des Fachs oder eine neue Revue der Klassiker zu liefern, geht Pfisterer das Wagnis einer Gesamtdarstellung der wissenschaftlichen und institutionellen Entwicklungen des Fachs ein. Dass dabei vieles nur kursorisch behandelt werden kann, versteht sich von selbst. Die Flughöhe, die es dem Autor ermöglicht, große Entwicklungslinien in den Blick zu bekommen, kann nicht zugleich auch Einzelanalysen in höchster Detailauflösung bieten. Dank der großflächigen Betrachtung erfährt man hier vieles über die Herausbildung des Kunstbegriffs, die Etablierung der Kunstgeschichte als akademische Disziplin und ihre Darstellung in Sammlungen und Museen.
Dass der Autor, der vor allem zur Kunst der Frühen Neuzeit gearbeitet hat, diese Langzeitperspektive immer wieder einbringt, bewahrt seine Darstellung vor jeder modernistischen Verkürzung. Vor allem liefert Pfisterer über die bloße Beschreibung hinaus eine problemorientierte Darstellung des Fachs, die sich gelegentlich auch Werturteile erlaubt, wenn er beispielsweise daran erinnert, dass auch eine politisch engagierte Kunstgeschichte auf einen Begriff der Form nicht verzichten kann.
Neben den großen Entwicklungslinien ruft der Band immer wieder auch Vergessenes in Erinnerung. Denn ihre Vergesslichkeit, so der Autor, ist eines der Hauptmerkmale der Kunstgeschichte. Neben den kanonischen Namen trifft man daher auch auf Vertreterinnen des Fachs wie Hanna Levy-Deinhard, Pionierin einer soziologisch informierten Kunstgeschichte, oder auf Oskar Beyer, dessen "Versuch, den Weltkunstgedanken zu entwickeln", zwar heutigen Ansprüchen an eine transkulturelle Kunstgeschichte kaum mehr entspricht, aber vor Augen führt, dass diese Herausforderung auch vor einhundert Jahren schon einmal gesehen, dann aber wieder vergessen wurde.
Erhellend ist auch der Hinweis auf Wilhelm Waetzolds "ästhetisch-biologischen Versuch" einer naturwissenschaftlich basierten Kunstgeschichte, der an vergleichbare Unternehmungen unserer Tage erinnert und auch damals schon über eine Mimikry naturwissenschaftlicher Exaktheitsideale nicht hinauskam. Der Band formuliert auch Ansätze einer Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte, die Verfahren wie Historisierung, Vergleich und Beobachtung in den größeren Zusammenhang einer Geschichte des Wissens setzt.
Unter den neueren Entwicklungen des Fachs interessieren Pfisterer die Ansätze einer digitalen Kunstgeschichte. "Die erste große Verheißung des Digitalen liegt in der absoluten Verfügbarkeit des Materials." Pfisterer beschreibt das Potential dieser ungeahnten Datenmengen, mit denen das Spektrum kunsthistorischer Objekte kontinuierlich anwachsen wird. Zu Recht erinnert der Autor aber auch daran, dass mit einer bloß quantitativen Aufbereitung noch nichts gewonnen ist, wenn sie mehr sein will als ein digital aufpolierter Positivismus. Die Verfügbarmachung von Daten ist kein Ersatz für das Denken, die Begeisterung für das technisch Machbare sollte die Frage nach dessen Sinn nicht vergessen lassen. Kunstgeschichte, so wird Pfisterer nicht müde zu betonen, sei "eine Wissenschaft am Anfang". Nach der Lektüre des Bandes versteht man, dass dieser Satz weder falsche Bescheidenheit noch einen verborgenen Hinweis auf die Notwendigkeit weiterer Drittmittel bedeutet. Eine Disziplin, die vieles vergisst, kann auch vieles wieder erinnern, es in neue und andere Zusammenhänge versetzen. Dazu lädt dieser Band ein.
PETER GEIMER.
Ulrich Pfisterer: "Kunstgeschichte zur Einführung".
Junius Verlag, Hamburg 2020.
325 S., Abb., br.
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